Die Rose von Darjeeling - Roman
am Tag zuvor. Mehrfach hielt Kathryn an. Ihr Kopf glühte, und die Pferde glänzten vor Schweiß. Je tiefer sie stiegen, desto wilder wucherte der Zauberwald. Schlingpflanzen verhängten Bäume, Luftwurzeln versperrten den Weg, und Orchideenkelche verströmten ihren süßen, betäubenden Duft. An jedem Bergbach füllte Kathryn ihren Tropenhelm mit kaltem Wasser und goss es sich über den Kopf. Wie in Trance ging sie Schritt für Schritt weiter.
Erneut dachte sie an ihren Vater. Seit zwei Jahren hatte er eine heimliche Geliebte! Sie konnte es einfach nicht glauben. Aber dann kamen Kathryn andere Gedanken. War das wirklich so schlimm? Ihre Mutter war seit fünf Jahren tot und er ein Mann im besten Alter. Altersmäßig passende, unverheiratete Engländerinnen lebten nicht im Tal. Und es stimmte ja, seit Generationen pflegten die Sahibs heimlich private Beziehungen zu Arbeiterinnen. Weshalb sollte ihr Vater sich also nicht in eine hübsche Nepalesin verlieben? Sam liebte einen Tibeter, der sehr gut aussah und hervorragende Umgangsformen hatte, Kathryn konnte ihre Freundin gut verstehen. Also maß sie mit zweierlei Maß. Ihr Verstand erkannte das, doch ihr Herz war zutiefst verletzt.
Endlich kam das Ufer des Rangpo, der ein kurzes Stück weiter in den Teesta mündete, in Sicht. Der Fluss nährte sich vornehmlich von Regenwasser, das dunkelgrün scheinende Wasser war klar, nicht verschlammt wie das des Teesta, der aus den Bergen vom Gletscher Zemu herunterröhrte. Auf hellen Sandbänken lagen gigantische Felsbrocken, das Flussbett barg kleine, rund geschliffene Granitsteine.
Die Brücke, die Kathryn passieren musste, um das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, wirkte um einiges stabiler als jene, die sie am Tag zuvor überschritten hatte. Direkt auf der anderen Seite befand sich die Grenzstation, das Tor zu Sikkim. Kathryn stärkte sich mit einem kleinen Imbiss. Sie ließ die Pferde trinken und ein wenig ausruhen.
Sorgfältig stopfte sie ihre Haare unter den Tropenhelm – ihre Freundin Sam, deren Einreisepapiere sie vorzeigen würde, war schließlich blond und sie brünett. Dann betrat sie die Brücke. In ihren Ohren rauschte es, sie schaute nicht nach unten. Die Pferde machten dieses Mal zum Glück keine Probleme. Trotzdem dehnten sich die Sekunden zu Minuten und die Minuten zu einer kleinen Ewigkeit. Kaum hatte Kathryn es geschafft, wartete die nächste Hürde auf sie. Die Grenzstation.
Das Tor zu Sikkim ruhte auf zwei dicken, runden, rot lackierten Säulen. Es mutete chinesisch an mit seinen kunstvollen, bunt bemalten Schnitzereien.
»Einen schönen Nachmittag, Officer!« Kathryn grüßte wie eine britische Lady, zeigte kühl ihre Erlaubnis vor.
Keiner der beiden Grenzer schöpfte Verdacht. Sehr korrekt stempelten sie das Dokument ab. Ihr Erstaunen darüber, dass eine weiße Frau allein reiste, war ihnen dennoch anzumerken.
»Ich will die Expedition der beiden Deutschen einholen«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Sie müssen hier die Grenze passiert haben.«
Der leitende Offizier bestätigte militärisch knapp: »Sind gegen fünfzehn Uhr hier gewesen, Miss Cox, die Männer werden es heute sicher noch schaffen bis zum Gästehaus.« Er räusperte sich. »Aber Sie, Miss? Es ist zu gefährlich nachts im Urwald.«
Er meine weniger die Räuberbanden, erläuterte er, die eher auf der bengalischen Seite Reisende überfielen, sondern mehr die schroffen Abgründe und die Raubtiere, die erst in der Nacht auf die Jagd gingen. Außerdem habe kürzlich ein Erdrutsch viel Geröll über die Wegstrecke ergossen.
»Da sollte man nicht im Dunkeln entlanggehen.«
Kathryn überlegte. Sie hatte kein Zelt, nur ihren Schlafsack und ein Moskitonetz dabei. Ihr fielen Samanthas Worte ein. Der Plan ist noch nicht so richtig ausgereift … Vielleicht war sie doch ein wenig zu impulsiv aufgebrochen. Hatte sie sich eigentlich überlegt, wo sie schlafen sollte? Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie straffte den Rücken. Angst durfte sie auf keinen Fall zeigen.
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Miss … Wir haben hier eine kleine Schreibstube mit Feldbett. Sie könnten dort übernachten und morgen früh ausgeruht weiterreiten. Im Laufe des Tages werden Sie den Vorsprung gewiss einholen.« Er öffnete eine Nebentür des Grenzpostenhäuschens und ließ sie hineinschauen.
Kathryn wog die Risiken gegeneinander ab. War sie hier sicherer? Drohte Gefahr von den Männern? Sie trugen Uniform, der Officer schien verheiratet zu sein. Auf
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