Die Rose von Darjeeling - Roman
dem Schreibtisch stand ein Foto, auf dem eine Frau und Kinder zu sehen waren. Und sie fühlte sich auf einmal furchtbar müde.
»Vielen Dank, ich nehme Ihr Angebot gern an.«
Kathryn schaffte es gerade noch, die Pferde zu versorgen, ihr Moskitonetz aufzuhängen und sich noch einmal mit dem Schutzöl einzureiben. Unter den Türgriff klemmte sie eine Stuhllehne, ihr Gewehr hielt sie griffbereit. Sie war so erschöpft, dass sie bis zum Morgen durchschlief.
Als Kathryn erwachte, empfand sie große Vorfreude. Sie kannte die beiden Deutschen erst kurze Zeit, aber sie vermisste sie schon. Noch heute würden sie sich wiedersehen! Kathryn beschloss, die Expedition inkognito zu überholen und Gustav und Carl zu überraschen.
»Riechen Sie mal«, sagte Colonel Robbins zu Gustav und Carl, »eindeutig Katze!« Der große Haufen im Dickicht nahe einer Wasserstelle war noch schleimig, und man konnte Haare darin erkennen – ein sicheres Zeichen dafür, dass er von einem Raubtier stammte. »Das Tier muss vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen sein. Ein Schneeleopard oder Tiger. Die braunweißen Haare sind typisch für Sambahirsche. Die anderen könnten von einem Wildschwein sein.«
Gustav stocherte mit einem Ast darin herum. Er scheuchte einen Riesenmistkäfer mit stacheligen Hinterbeinen auf, der rasch aus seinem Paradies stakste.
»Kein Grund zur Panik«, schaltete sich der Sirdar ein, »solange wir zusammenbleiben und nachts in den Gästehäusern schlafen.« Letzteres würde die nächsten drei Nächte bis Gangtok der Fall sein.
Seit sie sich in Sikkim befanden, hatten sie keine Spuren europäischer Zivilisation wie Kirchtürme, Teeplantagen oder Schulen mehr gesehen. Das Land war wild und einsam, aber nicht menschenleer. In der Ferne erblickten sie hier und da eine Ansiedlung, vereinzelte Bauernhöfe oder ein Kloster. Manchmal hörten sie Gebetsfahnen im Wind knattern.
Carl und Gustav waren sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Expedition. Lieutenant Colonel Frank Robbins erwies sich als angenehmer Reisegefährte. Er war Mitte dreißig, ein verlässlicher Angelsachse mit schmalem Gesicht und eng zusammenstehenden blassblauen Augen. Als junger Mann war er aus Oxfordshire nach Indien gekommen, um als stellvertretender Verwalter eines Teegartens in Darjeeling zu arbeiten. Dabei entdeckte er, dass es ihm Freude bereitete, die Sprachen der Bergvölker zu erlernen. Der Teegarten, ein Familienbetrieb, musste aufgeben, Robbins verlor seine Stellung, fand etwas Neues beim britischen Militär und bewährte sich dort bald als Übersetzer. Er hatte bereits längere Zeit in Sikkim gelebt.
Auch die Träger waren tüchtig und guter Stimmung. Trotz der Sprachhindernisse erzählten sie lebhaft Geschichten von ihren Familien. Die Leibdiener übertrafen sich im Eifer, ihren Sahibs das Leben so angenehm wie möglich zu machen. In den luftigen Gästepavillons von Kalimpong, noch im Bezirk Darjeeling, hatten sie ihnen ungefragt die Schuhe ausgezogen, ein Bad bereitet, frische Hemden herausgelegt und den Schlafsack auf dem Bettgestell ausgebreitet. Ab Gangtok würde der Luxus ein Ende haben, doch bis dahin hatte keiner der Sahibs ein Problem damit, ihn anzunehmen. Die Träger schliefen, wie sie es gewohnt waren, draußen ohne Dach über dem Kopf.
Normalerweise verliefen Reisen im Himalaya so, dass man sich bei Sonnenaufgang in Bewegung setzte, um das Ziel bis zum Mittag zu erreichen, weil man nie wissen konnte, ob ein Wetterumschwung zur Rast zwang. Im Notfall verfügte man so bis zum Einbruch der Dämmerung über einen ordentlichen Zeitpuffer. Carl zog es jedoch vor, frisch und ausgeruht gleich nach dem Aufstehen seine botanischen Forschungen zu betreiben. Er hielt in der Umgebung vor allem nach Rhododendren Ausschau, katalogisierte sie, fotografierte, machte Skizzen und vertraute seinem Botanikträger Blatt- und Blütenproben zum Pressen an. Er erhob dabei keinen wissenschaftlichen Anspruch, denn er wusste, dass er sich begrenzen musste. Carl wollte nur einige wenige seltene Rhododendronarten für seine Züchtungen finden. Und er hoffte auf eine Entdeckung, die vor ihm noch keiner gemacht hatte. Davon würde er Reiser nehmen und, wenn möglich, Pollen und Samen sammeln.
Nur eine Vorhut startete aus diesem Grund bereits bei Sonnenaufgang. Die Kolonne brach erst nach einem späten Frühstück gegen zehn Uhr auf. Einige Eingeborene irritierte es, dass es zwei Anführer gab. Deshalb beschlossen die Männer, dass Gustav als Sprachrohr
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