Die Rose von Darjeeling - Roman
durchdringlichen Wildnis und einer extrem hohen Malariagefahr. So bevorzugte auch Kathryn den Weg auf den Höhen seitlicher Bergkämme. Und sie genoss es.
Auf der Stirn spürte sie den kühlen Wind, während ihre Schultern schon angenehm von der Sonne gewärmt wurden. Ihr Herz weitete sich. Der harzige Duft von Pinien, der weite Blick, ihr Ziel vor Augen – sie fühlte sich unglaublich frei. Ein Glücksgefühl strömte durch ihren Körper.
Sie dachte an Gustav und Carl. Die Berührung des Unbekannten im Gymkhana kam ihr wieder in den Sinn. Wie seine Fingerspitzen ihren Rücken gestreichelt hatten … An das Rieseln, das sie ausgelöst hatten, erinnerte sie sich besser als an den Kuss. Sie stemmte sich fester in die Steigbügel, im Rhythmus des Pferdes hob und senkte sich ihr Körper. Kathryn sann darüber nach, wer der Unbekannte wohl gewesen sein mochte. Ihr Dauerverehrer? Sie horchte in sich hinein. Welcher von den beiden Deutschen, falls es einer von ihnen gewesen war, wäre ihr wohl lieber?
Sie konnte ihre Frage nicht beantworten. Und wieso sollte sie auch? Es waren ja nur Gedankenspiele. Handelte davon nicht sogar ein altes deutsches Volkslied? Die Gedanken sind frei … Kathryn summte es lächelnd vor sich hin.
In ihrer Berliner Zeit hatte die Tochter des Hauses, die zwei Jahre ältere Selma, sie mitgenommen auf Ausflüge ins Nachtleben der Stadt. Kathryn hatte Kabaretts und Varietés kennengelernt. Klubs, in denen Männer mit Männern tanzten und Frauen Frauen küssten. Selma schwärmte für Ausdruckstanz und expressionistische Kunst. Kathryn hatte alles neugierig beobachtet. Hineingestürzt hatte sie sich nicht. Ihr Instinkt bewahrte sie vor Abgründen, immer schon war das so gewesen. Aber prickelnd fand sie es schon.
In Berlin herrschte eine ganz besondere Stimmung. Viele der Älteren hatten den Weltkrieg erlebt, sie wirkten erfahren und abgeklärt. Das Grauen war in die Ferne gerückt und gab doch den Hintergrund für das vergnügungssüchtige Lebensgefühl in der Metropole. Dass so mancher durch die Schmerzmittel in den Lazaretten des großen Weltkriegs morphinabhängig geworden war, begriff Kathryn erst später. Wie eine Befreiung hatte sie die Monate in der deutschen Hauptstadt empfunden. Allein schon die neue Musik aus Amerika: Charleston, Jazz, Foxtrott! Kathryn trug ihn mit, den Protest gegen alles Leibfeindliche und Verklemmte. Einmal hatten sie auf einer Künstlerparty einen verheirateten Verleger kennengelernt, der sie zu einem Wochenende in seinem Landhaus einlud. Als Selma und Kathryn dort eintrafen, lag seine Frau, eine bekannte Modejournalistin, mit ihrem Liebhaber auf einem Sofa, und der Verleger selbst lief splitternackt durch das Haus, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Eifersucht ist etwas für Kleinbürger, hatte er gesagt und sich zu Kathryns Erleichterung dann doch einen Morgenmantel übergeworfen. Sie schnaubte leise bei der Erinnerung. Ein bisschen peinlich war es ihr mit ihren damals noch nicht mal achtzehn Jahren ja doch gewesen. Heute fühlte sie sich um einiges reifer. Dennoch stand sie den Bohemiens von Berlin viel näher, als es sich für eine wohlerzogene britische Teepflanzertochter geziemte.
Wahrscheinlich hatte die Pfadfinderbewegung sie darauf vorbereitet. Wanderungen an der frischen Luft, Zelten, Kameradschaft, Sport für Mädchen und ein einfaches, aber ehrliches Leben ohne Heuchelei. In ihrer Berliner Zeit sprach man viel über einen Mann, der die deutsche Wandervogelbewegung mitbegründet hatte und der »freie Liebe« predigte. Zehntausende folgten ihm auf seinem Marsch durch die Dörfer Thüringens, in seinen Zeltlagern blieb es nicht bei der Theorie. Das war sogar ihren aufgeschlossenen jüdischen Gasteltern zu viel gewesen. Selmas Mutter, eine Internatsfreundin von Kathryns Mutter, hatte einen deutschen Mediziner geheiratet, der seinen Patienten am liebsten Licht- und Luftbäder verordnete. Kathryn dachte an Selmas Brief, jetzt war die ganze Familie in Palästina. Sie schüttelte den Kopf. Schon verrückt, wie groß die Welt war! Und wie sich doch die Beziehungsfäden rund um den Globus miteinander versponnen …
Sie schaute einem Schwarm bunter Schmetterlinge nach. Ewig hätte sie so weiterreiten mögen. Sie musste jedoch, um die einzige Grenzstation im Norden Bengalens nach Sikkim passieren zu können, bei Pedong wieder tief hinunter in ein Tal, zum Fluss Rangpo. Das war anstrengend. Nun wiederholten sich Klima- und Vegetationswechsel wie
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