Die Rose von Darjeeling - Roman
Fuhrwerke hochquälten. Und sie sahen immer mehr Teesträucher. Da die Plantagen hier sehr viel kleiner waren als beispielsweise in Assam, sprach man in Darjeeling von Teegärten. Zu jedem Unternehmen gehörten Werkhallen für die Verarbeitung, die Arbeiterfamilien lebten in kleinen Dörfern mit mehr oder weniger erbärmlichen Wohnhütten.
Gustav wurde nachdenklich. »Immerhin geht’s denen besser als den armen Schweinen, die in Kalkutta auf dem Bürgersteig schlafen und sich in den Pfützen waschen müssen.« Er würde keine Geschäfte mit einer Teegesellschaft machen, die ihre Leute brutal ausbeutete. »Ehrlich gesagt: Ich gönne es ihnen«, bekannte er plötzlich mit Nachdruck, »wenn sie sich vom Joch der Kolonialmacht befreien!«
»Im Grunde bin ich auch auf ihrer Seite. Aber du hast doch selbst gesagt, dass man nicht weiß, wie viele Opfer solche Unruhen fordern«, wandte Carl ein. »Und ob das Volk schon gebildet genug ist, sich selbst zu regieren?« Man mochte ja über die Briten denken, wie man wollte, die Geschichte ihres Aufstiegs zur Weltmacht zeigte, wie man in Perfektion menschliche Stärken, Schwächen und Gier nutzte.
Carl hielt Politik grundsätzlich für ein schmutziges Geschäft. Manchmal stritt er darüber mit Gustav, der ein größerer Idealist und Fantast war als er. Carl sah sich als Realist. Er vermutete, es lag daran, dass sein Vater noch lebte. Der hatte sich mit Begeisterung in den großen Weltkrieg gestürzt und war desillusioniert heimgekehrt. Seine Erfahrungen, von denen er täglich erzählte, hatten den Sohn mitgeprägt. Anders als Gustav, der seinen Vater nur wenige Jahre erlebt hatte, bis er im Krieg sein Leben verlor. »Gefallen für Kaiser, Volk und Vaterland«, wie es damals hieß, »tapfer und selbstlos«. In der guten Stube der ter Fehns hing golden gerahmt der Druck eines Gemäldes, das Millionen Hinterbliebene in Deutschland zugeschickt bekommen hatten und das sie über die Gräuel des Krieges hinwegtäuschen oder -trösten sollte. Oft hatten sie als Jungen davorgestanden und es ehrfürchtig betrachtet: Der tote Soldat lag äußerlich unversehrt unter den Fittichen eines unendlich milde lächelnden, segenspendenden weiblichen Engels. Für Gustav stand deshalb das Heldenhafte als Ideal über allen anderen Lebenszielen.
Nein, dachte Carl, es stimmt nicht, dass man nichts lernt aus der Geschichte. Jedes Kind übernimmt in gewisser Weise die Lehren seiner Eltern, selbst wenn es sie ablehnt und – bewusst oder unbewusst – dann eben genau entgegengesetzt handelt. Geschichte war eine lange Kette von Verflechtungen. Familiengeschichte ebenso wie die Entwicklung eines Landes. Und wer nur einen Ausschnitt daraus beurteilte, der irrte leicht.
Sie hatten vor der Reise darüber gesprochen, dass man sich in fremden Ländern höflich, freundlich und zurückhaltend aufführen sollte. Carl mahnte also seinen Freund. »Vergiss nicht, keine Diskussionen über Politik!«
Gustav grinste: »Abgemacht, wir lassen uns mit den Engländern auf kein Streitgespräch ein. Und …«
Carl grinste zurück, denn er wusste, was er hinzufügen wollte. Seit ihrer Knabenzeit galt: »…nie soll uns ein Weib entzweien!« Er hielt seinem Freund die Hand hin. »Genau. Wir verfolgen stramm unsere Ziele. Du wirst der beste Händler feinster Tees in Deutschland, und ich werde die großartigsten neuen Rhododendren züchten!«
Gustav schlug ein.
Wenig später erreichten sie auf über zweitausendeinhundert Metern Höhe ihre Endstation: das malerisch gelegene Städtchen Darjeeling, Bergstation, Verwaltungssitz des Bezirks, gesellschaftlicher Mittelpunkt, Ferien- und Kurort, im Sommer sogar Sitz der Regierung Bengalens.
Sie sollten vom Bahnhof abgeholt werden. Allein hätten die beiden Deutschen wohl kaum den verschlungenen Pfad durch die Nebelwälder nach Geestra Valley gefunden, auch wenn die Sandwege nicht mehr so verschlammt waren wie noch vor kurzem während des kleinen Monsuns. Fünf Wochen lang hatte er den Teegarten vom Rest der Welt abgeschnitten.
Ein untersetzter, breitschultriger Mittfünfziger im weißen Leinenanzug empfing Carl und Gustav am Bahngleis. Sein Aussehen erinnerte an einen Waldkauz – breites Gesicht mit kurzer Nase, energischem Kinn und struppige dunkle Augenbrauen über einer dominierenden Hornbrille. Graue Strähnen durchzogen das rötliche Haar und den Schnauzbart. Er machte auf den ersten Blick einen schroffen Eindruck, doch die grauen Augen hinter den Brillengläsern blickten
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