Die Rose von Darjeeling - Roman
wollten.
Knapp sieben Stunden mäanderte der Schmalspurzug durch dichte Urwälder mit kirchturmhohen Bäumen die ersten Ausläufer des Himalayagebirges empor. Sowohl Kathryns Vater als auch der Himalaya Club hatten angeboten, die Deutschen schon unten im Tal in der Stadt Siliguri mit dem Auto abzuholen. Aber sie hatten in den Briefen, die zur Vorbereitung zwischen Deutschland und Indien hin und her geschickt worden waren, betont, sie wollten unbedingt einmal mit der legendären Bahn fahren, die im nächsten Jahr ihr fünfzigjähriges Jubiläum feiern sollte. So konnten die Freunde Carl Jonas und Gustav ter Fehn die Veränderungen der fremden Landschaft und das kühler werdende Klima beinahe im Schritttempo erleben. Sie stammten beide aus der nordwestdeutschen Tiefebene. Schon die Höhen der Himalayavorläufer wirkten auf sie gigantisch, das Städtchen Darjeeling hoch oben ließ sich zu Beginn der Fahrt nur erahnen.
Sie kreuzten einen tosenden Bergbach, in der nächsten Kurve blickten sie in einen tiefen Abgrund. Wolkenfetzen schwebten bald nicht nur über ihnen, sondern auch unterhalb der Bahn. Die Dampflok schnaufte sich zwanzigprozentige Steigungen hoch, manchmal haarscharf vorbei an Wasserfällen und felsigen Schluchten.
»Ganz schön gewaltig«, kommentierte Carl grinsend die Abgründe, »kein Wunder, dass man hier karmagläubig wird.«
»Und das ist erst der Anfang«, freute sich Gustav, »die richtigen Himalayariesen sind noch viermal höher.«
Die gut aussehenden, aufgekratzten Fremden erregten stille Aufmerksamkeit bei den Mitreisenden. Sie waren Mitte zwanzig, groß, gut gebaut und trugen die typische Teepflanzermontur: weiße Hosen und weißes Hemd. Sie hatten allerdings noch keine Tropenhelme, sondern moderne breitkrempige Hüte dabei.
Es wurde zunehmend kühler. Als sie eingestiegen waren, hatten die Baumwollhemden noch auf ihrer Haut geklebt. Jetzt zogen beide ihre sportlichen Wolljacketts über.
»Mensch, Carl, endlich sind wir da! Weißt du noch, wie du eine Nacht im Fenstervorsprung eures Hauses die Nacht verbracht hast, um deinem alten Herrn zu beweisen, dass du in den Bergen überleben kannst?«
Der Braunhaarige lächelte. »Und wie! Mit tat hinterher alles weh, und ich hab kein Auge zugemacht.«
»Aber dein Vater war endlich überzeugt.«
Die Dampflok pfiff, schmutzige Kinder winkten den jungen Männern fröhlich zu. Sie passierten ärmliche Dörfer, ratterten an religiösen Stätten mit flatternden Gebetsfahnen vorbei und hatten schon reichlich Gelegenheit, das Äußere der Einheimischen zu studieren. Sie waren nicht so hochgewachsen wie die Nordinder in Assam, wohin sie die erste Station ihrer Reise geführt hatte. Und nicht so schmal, bedrückt und beflissen wie viele Menschen, die sie in Kalkutta gesehen hatten. Hier im Himalayagebiet mischten sich Bergvölker, überwiegend aus Nepal, aber auch aus Tibet, Bhutan und dem indischen Bengalen. Die meisten hatten kurze, stämmige Beine, wettergegerbte, breite Gesichter mit hohen Wangenknochen und schmalen dunklen Augen; sie trugen umgürtete, aus Wolle gewebte Kleidung. Zäh wirkten die Menschen, die nah den Gleisen ihr Tagwerk verrichteten oder mit schweren Lasten auf dem Rücken unterwegs waren, aber auch schnell bereit zu einem fröhlichen Lachen. Ihre in Pastellfarben gestrichenen, verwitterten Häuser klebten wie Schwalbennester am Hang.
Für einen Moment spürte Carl eine unbändige Freude darüber, dass er nun wirklich endlich das Ziel seiner Knabenträume erreichte. Kumpelhaft stieß er seinem besten Freund den Ellbogen in die Rippen.
»Mensch, Gustav!«
Der knuffte ihn zurück.
»Hoffentlich sind die Genehmigungen für Sikkim inzwischen da«, sagte Gustav.
Carl nickte. »Sonst schlagen wir uns eben so über die Grenze.«
Er wusste sehr gut, dass das nicht ging. Die sikkimesische Bürokratie übertraf sogar noch die deutsche, selbst im Urwald. Aber darüber wollte er sich jetzt keine Sorgen machen.
Ihre Mitreisenden waren überwiegend Briten. Einige Männer trugen Uniform, waren blass, von Malariaanfällen und Durchfallerkrankungen geschwächt und reisten zur Erholung nach Darjeeling. Aber auch wohlhabende Inder und britische Verwaltungsangestellte flohen vor der über 40°C heißen Schwüle Kalkuttas mit ihren Familien in die Sommerfrische auf den Berg.
»Diese Hitzepickel bringen mich noch um!«, schimpfte eine Engländerin mit spitzem Gesicht. »Ich hasse dieses stickige Sumpfklima! Was gäbe ich darum, mal wieder einen
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