Die Rose von Darjeeling - Roman
mussten absitzen und vor den Pferden hergehen. Stundenlang. Kathryn hätte weinen können vor Erschöpfung. Bei jedem Tritt fühlte sie das Geröll unter ihren Füßen, sie bekam Blasen, die nach kurzer Zeit aufplatzten. Ihre Beine fühlten sich bleischwer an. Ein Träger hatte eine böse Entzündung am Fuß, da, wo ein Blutegel sich festgesogen hatte.
»Die Wunde schließt sich später als sonst wegen des Blutegelspeichels«, wusste Kathryn, »und wenn du damit barfuß durch Schmutz läufst, infiziert sie sich.«
Der Mann antwortete, der Colonel übersetzte: »Er geht barfuß, um das Fell der Erde nicht zu verletzen.«
Kathryn verarztete den Träger, so gut es ging. »Spätestens am Zemu-Gletscher wirst du freiwillig Schuhwerk anziehen oder im Basislager bleiben müssen.«
Zwei anderen Trägern konnte sie nicht helfen. Sie klagten über heftige Übelkeit, die sich im Laufe von wenigen Stunden zu Erbrechen, Ohrensausen und Schwindel steigerte, einer wies an den Beinen Ödeme auf. Der Sirdar behauptete, es liege daran, dass sie den mit Yakbutter versehenen salzigen Tee nicht regelmäßig zur Vorbeugung getrunken hätten. Carl und Gustav wussten, dass die Höhenkrankheit zum Tode führen konnte.
»Ihr dürft nicht weiter mitkommen«, befanden die Sahibs einstimmig. Sie schickten die Männer in Begleitung zweier anderer Träger zurück. »Wenn ihr die Kranken unten in einem Zwischenlager sicher untergebracht habt und wenn es ihnen besser geht, holt ihr uns wieder ein.«
Sie planten, drei Nächte im gleichen Lager zu bleiben, um sich zu akklimatisieren. Carl unternahm kleine Ausflüge. Er interessierte sich dafür, mit welchen anderen Pflanzen die Rhododendren von Natur aus harmonierten. Unterhalb des Lagers entzückte ihn die alpine Flora mit Echten Schlüsselblumen, dem Steinbrech mit seinen Sternchenblüten, mit Farnen, Blauem Scheinmohn und gelben Greiskräutern, die wie kleine Sonnen strahlten. Sie befanden sich jetzt auf knapp viertausend Metern. Hier überzogen die Rhododendren, obwohl nicht mehr so hoch wie in tieferen Lagen, ganze Hänge und verdrängten alle anderen Pflanzen.
Kathryn war dankbar für die Ruhezeit. Sie brauchte die Erholung dringend. Am Nachmittag des zweiten Tages sah sie Carl am Lagerfeuer auf einem Felsbrocken sitzen. Er sortierte und beschriftete seine Sammlung. Manchmal rief er seinen Botanikträger, und sie tauschten Pflanzenteile aus oder füllten Staubpollen in Reagenzgläser.
»Kann ich helfen?« Interessiert schaute Kathryn Carl über die Schulter. »Erst wenn man die Blätter und Blüten so nebeneinander sieht, bemerkt man ihre Vielfalt«, sagte sie bewundernd. »Wie viele Varianten es allein vom Blütenstutz gibt!«
»Ja«, Carls Augen leuchteten. »Die einen stehen aufrecht, die anderen fallen locker auseinander … es ist ein Kosmos für sich!«
»Muss schön sein, wenn man sich damit auskennt.«
»Komm, setz dich zu mir.«
Kathryn musste nah an Carl heranrücken, damit sie nicht herunterfiel. Als sie ihn berührte, zuckte sie unwillkürlich zurück, rutschte, aber Carl umfasste rasch mit einem Arm ihre Taille und zog sie fest an sich.
»Huch!«, rief sie erschrocken, fand sich aber im gleichen Atemzug albern.
Carl grinste. »Na, ich beiß doch nicht.«
Sie grinste zurück. »Das würde ich dir auch nicht raten.«
»Ach, was dann?«
»Dann beiß ich zurück.«
Er lachte. Carl hatte wunderbar weiße Zähne, und seit er so tief gebräunt war, strahlten sie noch makelloser als früher schon.
Carl drückte Kathryn ein kleines Reagenzglas in die Hand.
»Halt es ganz ruhig, bitte!« Behutsam streifte er gelbe Staubpollen in die Öffnung.
»Damit befruchtest du später in eurer Baumschule eine andere Sorte?«
»Ja, und mit viel Glück wird die Tochter schöner als Vater und Mutter zusammen.«
Carl sah Kathryn auf eine Art an, die ihr Herz bis zum Hals pochen ließ. Er räusperte sich, blätterte seine Schätze vor sie hin.
»Hier, der Rhododendron lanatum blüht cremefarben bis hellgelb, auch an steilen Hängen. Das Schönste daran, finde ich, ist die Glockenform seiner Blüten.«
Kathryn spürte Carls Körper, seine Wärme. Zwischen ihnen pulsierte eine Kraft, die sie in eine seltsame Hochstimmung versetzte. Das konnte kein Zufall mehr sein. Dieses Gefühl hatte sie schon mehrmals in seiner Nähe gehabt. Es war wie ein Versprechen, eine Erwartung großen Glücks. Als berge sie in sich einen bislang unbeachteten Ozean, der jetzt in Schwingung geriet.
»Oder
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