Die Rose von Darjeeling - Roman
Armen, als könnte er sie dadurch vor aller Unbill beschützen. Eine Woge von Zärtlichkeit durchflutete ihn. Er strich ihr über die Haare, ließ die Hand auf ihrem Kopf ruhen. Kathryn fühlte die Wärme. Und sie fühlte noch etwas: Dankbarkeit.
Erstaunt hob sie den Kopf, schaute ihn an. Seine braunen Augen erwiderten ihren Blick voller Wärme.
Sie schwiegen eine Weile, und es fühlte sich richtig an.
Als ihre Mägen anfingen zu knurren, mussten sie lachen. Zu trinken hatten sie ausreichend, aber nichts mehr zu essen.
»Ach, so ein Fastentag kann nicht schaden«, sagte Kathryn.
Sie beschlossen, sich wieder zu unterhalten, um sich abzulenken. Und sie redeten und redeten. Anfangs über die bekannten Persönlichkeiten der Teebranche, dann erzählte Kathryn von ihren Ausflügen mit den Pfadfindern und Gustav von der Kameradschaft in der bündischen Jugend. Das führte sie irgendwann zum Thema Berlin, und Kathryn schwärmte von ihrer Gastfamilie, die der zionistischen Bewegung folgend nach Palästina ausgewandert war, und von den Ausdrucktänzerinnen, die sie in Berliner Theatern gesehen hatte.
»Die konnten alles durch Tanz ausdrücken«, erinnerte sie sich, »auch ihre Visionen … und Menschentypen konnten sie darstellen wie zum Beispiel Prostituierte, Nonne oder »vom Auto überfahrener Mann«. Es war überwältigend, einfach pyramidal! Meine Berliner Freundin hat den modernen Tanz zu ihrem Beruf gemacht.«
Gustav erzählte von seinem Betriebswirtschaftsstudium in München, wo er sich als Mitglied des Akademischen Alpenvereins mit Klettertouren und Überlebenstraining auf den Himalaya vorbereitet hatte. Und von den sagenhaften Schwabinger Faschingsfesten. Dass er sich dort meist nur als Beobachter gefühlt und selten hatte berauschen lassen, verschwieg er.
Kathryn fragte ihn, ob er eine Braut habe.
»Nichts Festes. Ich wollte mich nicht binden vor der Darjeeling-Reise … Und du? Hast du jemanden?«
Sie beugte sich vor, um das Feuer wieder anzufachen, schüttelte verlegen den Kopf.
Gustav sah den Widerschein des rötlichen Lichts in ihrem Gesicht. Die niedliche Stupsnase, den Schwung ihrer vollen Lippen. Sein Herz klopfte auf einmal wie nach einem Dauerlauf. Und er fror.
»Komm«, seine Stimme klang rau.
In diesem Moment flog eine Sternschnuppe über den Himmel.
»Oh, schau! Jetzt dürfen wir uns etwas wünschen«, rief Kathryn entzückt.
Wieder saßen sie eine Weile nur da, und jeder hing seinen Gedanken nach.
»Erzähl mir noch ein bisschen von Carls und deiner Kindheit«, sagte Kathryn auf einmal.« Eine Frage schoss ihr durch den Kopf, die sie sich schon länger gestellt hatte. »Wie konntet ihr euch als Kinder am Brunnen des Nachbarn treffen, wenn du doch aus Ostfriesland kommst und Carl aus dem Ammerland?«
Gustav lachte leise. »Carls Mutter stammt auch aus Ostfriesland, sie wuchs im gleichen Moordorf auf wie mein Vater. Carl hat seine Großeltern dort oft besucht …«
»Aha, jetzt verstehe ich.«
»Und meine Mutter wiederum ist Ammerländerin. Die Familie meiner Mutter besitzt einen alten Bauernhof am Zwischenahner Meer.«
»Direkt am Meer?«
»Na ja, eigentlich ist es ein See, aber man nennt es Meer.« Er schmunzelte. »Dafür liegt Ostfriesland direkt an der Nordsee. Die ist aber umgekehrt kein See, sondern ein Meer.«
»Ich weiß, ich bin ja Britin. Erzähl mal, wie sieht’s bei euch aus?«
Gustav beschrieb so gut er konnte das Typische des Ammerlandes und das Charakteristische Ostfrieslands. Während er erzählte, suchte er dünne, flexible Bambusstäbe zusammen, dann verflocht er sie miteinander, sodass eine Art Gitter entstand.
»Und sind die Leute verschieden? Ich meine, kannst du einen Ammerländer von einem Ostfriesen unterscheiden?«
»Na, es gibt schon ein paar Merkmale. Die plattdeutsche Sprache zum Beispiel, der Zungenschlag und manche Ausdrücke sind anders. Man sagt auch, die Ostfriesen seien mehr geradeaus, weltoffener, weißt du, viele sind auf großer Fahrt gewesen, das prägt. Und die Ammerländer, heißt es, seien mehr der Scholle verhaftet, bauernschlauer, sie hätten immer noch ein Ass im Ärmel.«
»Aha. Und was bist du nun mehr?«
»Immer das, was gerade gefragt ist …« Gustav grinste.
»Also doch mehr ein Ammerländer«, folgerte sie und lachte.
Das schien ihrem deutschen Freund aber nicht recht zu behagen. »Die väterliche Linie ist wohl die entscheidende, oder?«
»Da müssen wir Carl mal fragen. Der kennt sich besser mit Vererbungslehre aus und
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