Die Rose von Darjeeling - Roman
sie sich nicht darum.
Kathryn wollte nur liegen bleiben und abwarten, bis es vorbei war, weitergezogen wie ein Tag Dauerregen. Niemand sollte sie stören. Kein Mensch würde ihre seltsamen Anwandlungen verstehen, sie verstand sie ja selbst nicht. Auslöser war ihre Erschöpfung. Doch die Ursache?
Immerhin wusste sie, dass die Melancholie ebenso zuverlässig verging, wie sie plötzlich aufzutauchen pflegte. Kathryn ließ den Sahibs ausrichten, dass sie einen Tag Ruhe brauche. Als Tschuki ihr den Schamanen zu Hilfe schickte, lehnte sie ab. Sie rührte auch das Reisgericht, das Tschuki ihr brachte, kaum an.
Irgendwann schaute Carl nach ihr, doch da schlief sie. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte eine tiefe seelische Erschöpfung wider. Carl betrachtete sie erschrocken, auch gerührt. Ihm war, als würde diese junge Frau insgeheim schon lange einen zähen Kampf in ihrem Inneren führen. Was erlitt Kathryn, und wogegen kämpfte sie?
Carl zog sich leise und ohne eine Antwort gefunden zu haben aus ihrer Hütte zurück.
Der Schamane hatte alle Hände voll zu tun, um die Kranken mit Heilmitteln zu versorgen. Er gab dem Träger und Carls Leibdiener, die unter den gleichen Krankheitssymptomen litten, je ein Stück von der Wurzel der Leopardenblume.
»Nur zu, zügig kauen!«
Robbins übersetzte die Anweisungen. Widerwillig kamen die Kranken der Aufforderung nach.
»Werden Zunge und Rachen heiß?«, fragte der Schamane.
Beide nickten. »Brennt wie Chili«, ächzte der Träger.
Der Lepcha nickte zufrieden. Das sei der Beweis dafür, sagte er, dass es sich um eine Lebensmittelvergiftung handle. Er bereitete einen Sud aus der Wurzel, ordnete an, dass die Männer außerdem nur Milch und Reis verzehren dürften.
»Ihr werdet zwei Tage hohes Fieber haben«, kündigte er an. »Dann seid ihr entgiftet und wieder gesund.«
Eine Dorfversammlung wurde einberufen. Nach ausgiebigem Palaver und nach einer Zeremonie mit viel Räucherwerk verkündete der weise Mann: »Ihr dürft auf den Gletscher ziehen. Unsere Männer werden euch als Yakführer begleiten. Aber vorher müssen wir gemeinsam ein Opferfest feiern.«
Dafür waren einige Vorbereitungen erforderlich, auch der Mondstand musste berücksichtigt werden. Die Frauen kochten Gerichte aus Reis, Kartoffeln, Zwiebeln, Chili und Huhn. Eine Ziege wurde geschlachtet. Und die Männer gingen auf die Jagd, auch die Gäste.
Die Lepchas schossen mit Pfeil und Bogen. Sie bewegten sich unglaublich unauffällig durch den Wald. Carl fürchtete fortwährend, er könnte beim Schießen aus Versehen einen der Männer treffen und war froh, als sie endlich ein Reh und zwei Wildschweine erlegt hatten.
Gustav versuchte den ganzen Tag, eine Gelegenheit zu finden, mit Carl zu sprechen. In Ruhe. Aber immer kam etwas dazwischen. Irgendwann beschlich ihn der Verdacht, Carl suche sich vielleicht absichtlich ständig Aufgaben, die ihn von ihm fortführten oder ablenkten. Mal musste er nach einer seltenen Pflanze schauen, mal legte er sein Gewehr auf eine Taube oder Ente an und durfte nicht angesprochen werden.
Gustav wusste, dass es ihm mehr als schwerfallen würde, über zarte Liebesgefühle zu reden, selbst mit seinem besten Freund. Er wusste nicht, wie er seinen Zustand in Worte fassen sollte. Und je länger er überlegte, desto dümmer kam er sich vor. Wollte er sich etwa bei seinem Freund die Erlaubnis zum Verliebtsein abholen?
Am nächsten Tag, sie gingen mit den Einheimischen zum Fischfang an den Fluss, hatte sich Gustav durch das ständige Gedankenkreisen in eine aggressive Stimmung gebracht. Er brauchte keine Genehmigung für die Liebe! Schon gar nicht von dem Kerl, für den er seit Tagen und Wochen solche Strapazen auf sich nahm. Bloß für dieses immergrüne Gestrüpp. Der sollte mal ganz ruhig sein, der hatte da gar nichts zu melden. Er konnte lieben, wen er wollte! Gustav schnaubte wütend vor sich hin.
»Ist was mit dir?«, fragte Carl schließlich. »Macht das die Medizin von dem Schamanen?«
»Ach, verdammt, du kannst mich mal!«, fuhr Gustav ihn an, heiser von seiner Allergie.
»Mann, bist du gereizt!«
Carl schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte er ja mit Gustav über seine Gefühle für Kathryn sprechen wollen. Seit sie über die Lepcha-Brücke geschwebt war, dachte er Tag und Nacht an sie … Mehr und mehr beschäftigte ihn auch die Frage, welches Geheimnis sie barg. In seinem Herzen blühte eine zarte Knospe auf. Aber wenn Gustav sich dermaßen grob aufführte, würde er den Teufel
Weitere Kostenlose Bücher