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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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Seil fest.
    Kathryn bebte innerlich, als sie an die Reihe kam. Nicht zu sehr anstrengen, das Ziel zu erreichen, hatte der weise Lama ihnen geraten. Absichtslose Absicht, verdammt, was war das? Sie konnte unmöglich beide Pferde gleichzeitig mitnehmen, deshalb leitete sie zunächst Joshi allein. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne, die schon tief stand, brach durch die Wolken, und Kathryn wurde wie von einem Bühnenscheinwerfer angestrahlt. Langsam schob sie einen Fuß vor den anderen. Du darfst keine Angst haben, sprach sie sich Mut zu, geh wie über den Schwebebalken beim Turnen.
    Carl spannte jetzt mit den Lepcha-Männern zusammen das Seil straff. Gebannt schaute er zu. Großartig machte Kathryn das! Und sah sie nicht hinreißend aus? Ganz in sich selbst ruhend schwebte sie beinahe! Nie war sie ihm so entrückt und begehrenswert erschienen wie in diesem Moment. Carl schloss die Augen halb und blinzelte durch seine Wimpern, er wollte sie nicht durch Blickkontakt irritieren. Inständig wünschte er, sie möge ihre schlafwandlerische Sicherheit behalten.
    Nur mit größter Konzentration widerstand Kathryn der Versuchung, nach unten zu schauen. Sie blickte geradeaus, fixierte einen Punkt wie eine Seiltänzerin. Ihre Stute folgte ihr mit tief gesenktem Kopf.
    Kaum war Kathryn angekommen, da ließ sie ein Hatschi zusammenfahren – Gustav! Ausgerechnet jetzt überkam ihn ein Niesanfall! Instinktiv umklammerte er fester das Seil, das die Männer auf beiden Seiten ruckartig stärker spannten. Gustav stand ruhig auf der Brücke über dem Abgrund und wartete. Und wartete. Sein Pferd wurde unruhig, es tänzelte, schnaubte, entleerte sich, verdrehte angstvoll die Augen. Lange durfte Gustav nicht mehr in dieser auch für das Tier furchterregenden Position verharren.
    Endlich löste Gustav die Hand, um weiterzugehen, da kam ein erneutes Hatschi. Er geriet auf dem schlüpfrigen Bambus ins Schwanken, balancierte die Schwingungen aber gleich aus. Vorsichtig geleitete er sein Pferd auf die andere Seite.
    Kathryn schossen Tränen der Erleichterung in die Augen, was Gustav sichtlich glücklich machte.
    Carl klopfte seinem Freund auf die Schulter. Dann ging er noch einmal zurück. Er nahm Kathryns Lastpferd an die kurze Leine, und Kathryn hielt vor Angst die Luft an, aber er führte es sicher herüber. Endlich hatten es alle geschafft, der Letzte, ein Gurkha, sogar ganz ohne Seil.
    Gustav dankte dem Lepcha-Anführer mit Proviant aus der Zwiebacktonne und einer Handvoll Betelnüsse. Auch Frauen und Kinder drückten sich inzwischen neugierig um sie herum. Sie wirkten fröhlich. Und furchtbar schmutzig.
    »Sauberkeit ist ein Konzept, das ihnen partout nicht einleuchtet«, grummelte der Colonel.
    »Sie sind ein feiges Volk«, sagte einer der Gurkhas verächtlich. »Diese Lepchas haben noch nie gekämpft.«
    Sein Volk galt als das tapferste weit und breit, Gurkhas bildeten seit Jahrzehnten eigene Einheiten im Militär des britischen Empire.
    »Vielleicht sind sie nur klug«, meinte Kathryn, »wenn sie sich nicht gegen Eindringlinge aus den Nachbarländern wehren. Denn die sind ihnen überlegen.«
    Robbins sprach mit dem Anführer, und er übersetzte. Die Lepchas kamen gerade von der Honigjagd. Nicht weit von der Schlucht bestaunte Kathryn eine gegen den Berg gelehnte lange, aus Bambus und Hanfseilen gefertigte Leiter. Der Anführer zeigte mit dem Finger hoch zu einer wohl zweihundert Meter hohen Klippe, unter der Nester wilder Bienen klebten. Bis dort oben hinauf vermochten die Geschicktesten unter den Lepchas zu klettern. Nicht nur der Honig, auch das Wachs war ihre geschätzte Beute.
    »Von wegen feige«, sagte Kathryn.
    Der Anführer wollte sie nicht einfach so gehen lassen. Er lud sie ein, ihnen zu folgen. Ihr Dorf bestand aus einer Ansammlung einfacher Pfahlhütten. Es lag im Wald, wo sie mit Feuerrodung Platz geschaffen hatten, grenzte aber an eine Hochweide, auf der mächtige Yaks mit zotteligen, langen Brusthaaren grasten. Auf den Feldern wuchsen Mais, Spinat, Reis und Kardamom.
    Unter den Hütten zwischen den Holzstelzen meckerten Ziegen und suhlten sich Schweine. Das Geflügel lief frei umher. Zu Kathryns großem Erstaunen errichteten zehn Lepcha-Männer innerhalb einer Stunde, nur mit ihren Messern aus Bambusrohr, -streifen und -blättern fünf Gästehäuser – mit je einem Bettgestell, einem Tisch und einem Stuhl. Ein Mann im gestreiften Obergewand, der von allen Bewohnern sehr respektvoll behandelt wurde, kam, um sie zu

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