Die Rose von Darjeeling - Roman
begrüßen. Er hieß Tachi und war der Schamane des Dorfes.
Colonel Robbins unterrichtete ihn über die Absichten der Expedition. Er fragte im Auftrag von Gustav und Carl, ob gegen angemessene Bezahlung vier Lepcha-Männer mit ihnen auf den Gletscher kommen wollten. Und ob sie einige ihrer Yaks auf der Expedition mitführen könnten. Den robusten tibetischen Rindviechern machten Schnee und Eis nichts aus, und zur Not konnte ihr getrockneter Dung in baumlosen Regionen als Heizmaterial dienen.
Tachi kündigte an, sich mit den Geistern in Verbindung zu setzen sowie seinen Rosenkranz zu befragen und sie später über die empfangenen Botschaften zu unterrichten. Er sagte, die Seelen ihrer Toten würden in die Berge wandern, wo die Götter wohnten. Dort würden sie sich mit den Göttern vereinigen und auf ihre Wiedergeburt warten. Deshalb müsse er vor jedem Eindringen in ihre Region ihre Erlaubnis erbitten. Doch zuvor wollte er die Kranken untersuchen und in den Wald gehen, um Heilpflanzen für sie zu suchen.
Die Bhotias unter den Trägern freuten sich besonders über die Rast. Einige vollführten regelrechte Freudentänze. Sie verstanden sich gut mit den Lepchas.
»Unsere Völker haben schon vor vielen Generationen Blutsbrüderschaft geschlossen«, erklärte einer der Männer.
Eine junge Frau namens Tschuki brachte Kathryn heißes Wasser und sagte etwas, das lustig klang. Jedenfalls lachte sie gutmütig. Kathryn dankte ihr. Sie genoss es, sich endlich einmal wieder gründlich reinigen und die Haare waschen zu können. Dann ließ sie sich auf ihr dickes Lager aus trockenen Bambusblättern sinken. Was für ein Luxus!
Und was für ein Gefühlsaufruhr! Sie fühlte sich unruhig und ermattet zugleich. Sie dachte an ihre Verwirrung in Carls Nähe, an die Nacht auf der kleinen Felseninsel, die Erregung und den Beinahekuss mit Gustav, ihren Balanceakt über dem Abgrund. Sie seufzte.
Wenn nicht bald etwas passierte, würde sie nicht mehr wissen, wohin mit ihren Emotionen.
Auf das horchen, was wirklich ist, hatte der Lama ihnen geraten. Wenn sie an Gustav dachte, reagierte ihr Unterleib. Wenn sie an Carl dachte, spürte sie ihr Herz. Ihren Kopf hielt sie eh nicht mehr für zurechnungsfähig. Darin rauschte und drehte sich alles.
Müsste sie sich denn überhaupt entscheiden zwischen ihren beiden Freunden? Welche Rolle spielte es schon, wer sie im Gymkhana Club geküsst hatte? Wer würde sie lieben, wie sie wirklich im tiefsten Innern war? Auch mit ihren dunklen Seiten und ihren Schwächen? Sie träumte von einem Mann, der sie erkannte. Der ihr sagte, wie sie wirklich war oder sein könnte. Und der ihr die Freiheit ließ, diejenige auch tatsächlich zu werden.
Den ganzen Tag über war Robbins Übersetzerkunst an allen Ecken und Enden benötigt worden. Da er nicht überall gleichzeitig sein konnte, liefen einige Übersetzungen von Mund zu Mund über mehrere Personen, von Lepcha-Dorfbewohner zu Bhotia-Träger und weiter zu Sherpa-Träger zu Kathryn, die das Nepalesisch interpretierte. Doch was sie an diesem Tag an Informationen gesammelt hatte, schien ihr mehr als fragwürdig. Ob sich da nicht doch Fehler eingeschlichen hatten wie bei einer Stille-Post-Runde?
Kathryn hatte verstanden, dass die Lepcha-Frauen Vielmännerei betrieben! Die nette freundliche Tschuki beispielsweise hatte ganz legal drei Ehemänner! Und angeblich entschied die Linie der Mütter, zu welcher Familie man gehörte.
Kathryn schloss die Augen. Sie wusste nur wenig über die Vorfahren ihrer Mutter. Weder großmütterlicherseits noch großväterlicherseits. Und über ihre Mutter selbst wusste sie auch kaum etwas. Ach, ihre Mutter …
Mama, wo bist du jetzt nur?, dachte sie. Zwei heiße Tränen rannen ihr aus den Augenwinkeln, aber das spürte Kathryn schon kaum mehr. An diesem Tag war so viel geschehen. Sie hörte weder den Eulenruf noch das metallische Gequake eines Laubfroschchores, der Gustav und Carl in den Hütten nebenan schier wahnsinnig machte. Kathryn schlief zwölf Stunden lang wie ein Stein.
Doch noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass dieser Tag wieder einer ihrer grauen Tage werden würde. Dass die Melancholie sie erneut in ihren Klauen hielt. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, jede Bewegung war eine Qual – als ob sie eine Greisin wäre. Sie empfand nur dumpfe Trübsal, Hoffnungslosigkeit und die lähmende Angst, unter einer Schlammlawine zu ersticken.
Manchmal konnte diese Angst in Panik umschlagen. Am besten kümmerte
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