Die Rose von Darjeeling - Roman
»Ja, stell dir vor, schlimmer noch als im wilden Berlin, wo eine verheiratete Frau ein Verhältnis haben kann, sind hier einige Frauen sogar mit mehreren Männern gleichzeitig verheiratet!«
Gustav ließ sie, wenn auch ungehalten, teilhaben an seinem Wissen aus der Vorbereitung auf die Reise. »Es gibt tatsächlich einige Himalayavölker, die Polyandrie, also Vielmännerei, erlauben. Aber, liebe Kathryn, die Gründe dafür sind nicht besonders romantisch.«
»Ach, sind sie nicht?«
Kathryn sah Gustav enttäuscht an. Sie fühlte sich an diesem Abend so hemmungslos offen und beschwingt. Ob der Schamane ihnen vielleicht ein Rauschmittel irgendwo hineingetan hatte? Vielleicht so etwas wie eine enthemmende Sag-die-Wahrheit-Droge? Hoffentlich gab es wenigstens von dem einheimischen Bier keinen schlimmen Kater.
»Nein«, gab Gustav zurück. »Es hat schlicht den Grund, dass es hier oben zu wenig zu essen gibt und dass der Nachwuchs überschaubar gehalten werden muss. Wenn sich zwei oder drei Männer eine Frau teilen, kommen weniger Kinder zur Welt, als wenn jeder Mann eine oder sogar mehr Frauen hätte.«
»Schade«, sagte Kathryn mit schwerer Zunge. »Dass es nicht aus Liebe geschieht, meine ich …«
»Außerdem sind es meist Brüder oder männliche Verwandte, die eine gemeinsame Frau haben«, fügte Gustav hinzu. »Und wenn einer von ihnen stirbt, wird sie weitervererbt. Es bleibt sozusagen in der Familie.«
»Aber ich wollte ja auch nicht sagen, dass wir nun leben sollten wie die Lepchas«, entgegnete Kathryn hilflos.
»Sondern?«
Sie war den Tränen nahe. Warum waren die beiden nur so stur und unbeweglich, wieso halfen sie ihr nicht? Sie wollte doch auch für Carl und Gustav etwas Besseres als öde Konventionen.
»Ich weiß es nicht!«, brach es da aus ihr heraus, und sie feuerte eine ganze Handvoll Zapfen in die Flammen.
Carl schaute nachdenklich auf die kleinen Funkenfeuerwerke. »Was du meinst, geht vermutlich in die Richtung Liebe ohne Besitzdenken, oder?«
Dankbar nahm Kathryn seine Anregung auf. »Ja, vielleicht, ja, das kann gut sein.« Sie nahm Carls Hand, mit der anderen ergriff sie die Gustavs. »Es ist einfach so: Ich mag euch beide sehr.« Sie holte tief Luft und bekräftigte. »Wirklich sehr!«
Die Männer drückten ihre Hand.
»Ich mag dich auch sehr«, sagte Carl.
»Und ich dich auch!«, bekannte Gustav. »Sehr.«
Kathryn schöpfte neuen Mut. »Und deshalb möchte ich nicht, dass eure Freundschaft leidet. Und ich will auch nicht, dass meine Freundschaft zu euch leidet, also, ich meine, zu einem von euch, also zu dem anderen …« Sie verhedderte sich so, dass sie weder den Satz noch den Gedankengang beenden konnte.
»Kommt drauf an, wer der eine und wer der andere ist«, spottete Carl.
»Soll das jetzt heißen, der eine bekommt Liebe und der andere Freundschaft?«, fragte Gustav nüchtern. »Oder beide bekommen Liebe und dürfen nicht eifersüchtig sein?«
Kathryn musste kichern. Auf einmal kam ihr die Situation sehr skurril vor. »Keine Ahnung.« Sie zuckte die Achseln. »War ja nur mal so eine Überlegung.«
»Dann lass sie uns auch bitte konsequent durchspielen«, verlangte Gustav. »Angenommen, du würdest zwei Männer lieben, mit Leib und Seele … Heiraten könntest du bei uns nur einen. Kinder bekommen könntest du selbstverständlich von beiden. Aber wie sollte das im normalen Leben funktionieren?«
Kathryn schwieg. Darauf wusste sie keine Antwort. So weit hatte sie überhaupt noch nicht gedacht.
»Mir ist es sehr wichtig, Söhne zu bekommen«, erklärte Gustav. »Und bei aller Liebe und Freundschaft zu Carl, ich möchte schon, dass später einmal mein leiblicher Sohn die ter-Fehn-Familientradition fortführt.«
»Hm.« Das sah Kathryn ein. Immer wollen die Männer Söhne statt Töchter, dachte sie dennoch mit leichter Verbitterung, in Darjeeling wie in Ostfriesland. Dann siegte wieder ihr Humor. »Es muss ja nicht bis zum Äußersten kommen. Ans Heiraten und Kinderbekommen hab ich nun wirklich noch nicht gedacht. Es geht doch erst einmal darum, wie wir in den nächsten Tagen und bis zum Ende der Expedition mit unseren Gefühlen zurechtkommen.«
»Ich finde es gut, dass wir darüber reden«, sagte Carl zu Gustav. »Du erinnerst dich an unseren Schwur.«
Gustav blickte seinen Freund offen an. Er nickte nur. Worte waren jetzt überflüssig. Carl stand auf, ging zu ihm, auch Gustav stand auf. Sie umarmten sich nach Männerart, klopften sich auf die Schultern. Nie sollte ein
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