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Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Titel: Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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begann nun grad’ vor Angst zu laufen.
    »Halt, steh’, oder ich schieße!« ertönte es.
    Das Gewehr klirrte. Der Knabe suchte, von Furcht getrieben, den Ort, an welchem er herabgekommen war; da krachte der Schuß.
    »Vater!« ertönte es laut durch die Nacht; dann brach der Getroffene zusammen.
II.
    Es war am Sonnabend früh. Die Anstaltsglocke gab das Zeichen, daß die Gefangenen sich vom Lager zu erheben hatten. Die Aufseher waren aus ihren in der Stadt gelegenen Privatwohnungen eingetroffen und traten in ihre Visitationen, welche während der Nacht von den Posten bewacht worden waren.
    »Ist etwas vorgefallen?« fragte einer von ihnen den Soldaten, welcher ihn an der Thür zur Ablösung erwartete.
    »Es war große Unruhe unter den Leuten, weil in der Nacht ein Schuß gefallen ist,« lautete die Antwort. »Nummer Hundertneunzig steht im Meldebuche; er ist in seiner Zelle auf und ab gegangen, obgleich ihm wiederholt geboten worden ist, sich niederzulegen.«
    »War er krank?«
    »Nein, sonst hätte er sich auf der Krankenstation gemeldet. – Wer macht die Anzeige? Sie, Herr Aufseher?«
    »Nein, sie ist Sache Ihres diensthabenden Unterofficiers, der sie weiter giebt, bis sie um acht Uhr an die Direction kommt. Ich habe den Betreffenden nur zurück zu halten, damit er zur Verfügung steht, wenn er zum Verhöre verlangt wird. Er ist Außenarbeiter.«
    Der Sprechende verabschiedete den Posten und ging dann die Zellenreihe hinab, bis er an eine Thür gelangte, über welcher ein Blechschild mit der Nummer Hundertneunzig hing. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.
    Als der Gefangene seinen Vorgesetzten erblickte, erhob er sich von dem Schemel, auf welchem er saß. Die häßliche Anstaltsmontur hatte nicht vermocht, seine vortheilhafte Gestalt zu verbergen; aber seine Wangen waren bleich und eingefallen, seine Schläfe eingesunken, und die Augen blickten trübe und verschleiert aus ihren Höhlen hervor.
    »Hundertneunzig, Du bist angezeigt!«
    »Ich? Warum, Herr Aufseher?«
    »Weil Du während der Nacht nicht Ruhe gehalten hast! Was machst Du denn für Dummheiten? Du hast Dich doch bisher immer gut geführt!«
    »Herr Aufseher, es wurde draußen im Graben geschossen, grad’ unter meinem Fenster, und –«
    »Das geht doch Dich nichts an! Du hast Dich Abends nieder zu legen und ruhig bis früh liegen zu bleiben, außer wenn Du Dich unwohl fühlst. Du darfst heute nicht mit zur Arbeit; denn punkt Neun mußt Du zum Herrn Direktor, um Deine Strafe zu bekommen!«
    »Aber ich habe doch keinen Lärm verursacht! Es war mir unmöglich, zu schlafen; denn gleich nach dem Schusse hörte ich eine –«
    »Schon gut; ich habe jetzt keine Zeit, auch geht mich die Sache gar nichts an! ›Wer nicht hört, der muß fühlen!‹ – das ist eine alte Regel und hier in der Anstalt noch mehr Gesetz, als draußen!«
    Er verschloß die Thür und entfernte sich.
    Der Sträfling sank auf seinen Schemel zurück, bog sich auf die Kniee hernieder und verbarg das Gesicht in die beiden Hände. Am Himmel stand die helle, goldene Morgensonne; er konnte sie nicht sehen; ihr Licht fiel nur matt durch das hoch angebrachte, schmale und vergitterte Fenster in den engen, traurigen Raum. Wer hat das Recht, dem Menschen ihren Strahl, ohne den er nicht leben kann, zu entziehen? Wer hat die fürchterliche Strafe erfunden, die ihn den Seinen entreißt einer That wegen, an der sie keinen Antheil haben? Wer wagt es, zu behaupten, daß der richterliche Schiedsspruch, welcher in die tiefsten Tiefen eines menschlichen Seins hinunterlangt, untrüglich sei? – Wie oft hatten diese Gedanken in seinem Hirne gewühlt, seinen Kerker zur unausstehlichen Hölle gemacht und jeder einzelnen der jammervoll hinschleichenden Stunden die Länge einer Ewigkeit gegeben! Er nahm die magere Morgensuppe in Empfang, ohne sie anzurühren, hörte nicht das entsetzliche Klirren der Riegel und Schlösser, diese fürchterliche Musik der »dunkeln Häuser«, und saß vollständig bewegungslos, bis ihn die Stimme des öffnenden Aufsehers aus seinem dumpfen Brüten weckte.
    »Hundertneunzig, hier ist die Bürste! Schmier’ die Schuhe und putz’ Deine Jacke; es geht zum Herrn Director!«
    Nachdem diese einfache Toilette vollendet war, wurde er in das Vorzimmer des Hochgebietenden transportirt, wo eine Menge Schicksalsgenossen von allen Visitationen versammelt waren, um ein jeder für irgend eine größere oder geringere Sünde gegen die Hausordnung die Strafe dictirt zu erhalten. Sie

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