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Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten

Titel: Die Rose von Ernstthal. Erzgebirgische Dorfgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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öftersten ruhte sein Auge auf Nummer Hundertneunzig, wobei seine Miene einen Ausdruck deutlicher Verachtung und Gehässigkeit zeigte. Dem gewöhnlichen Manne mangelt die Bildung, welche sich zu der humanen Anschauung erhebt, daß das Vergehen die äußere Folge einer inneren, moralischen Krankheit sei, an welcher der Verbrecher selbst zuweilen die geringere Schuld trägt, die ihn aber auch im schlimmsten Falle nicht aus der Reihe der menschlichen Wesen scheidet und eher Mitleid als Verachtung erwecken sollte.
    Der Gefangene hatte, als er ihn vorhin erblickte, das Auge bestürzt zu Boden geschlagen, und seine bleichen Wangen waren unter dem Gefühle der Scham bis an die Schläfe roth geworden. Er vermied es geflissentlich, ihn anzusehen, und hielt den Kopf so tief wie möglich zur Erde gebeugt. Sein geschwächter Zustand erlaubte ihm nicht, mit den Anderen gleichen Schritt zu halten. Der Soldat mußte ihm den guten Willen, das Gleiche zu leisten, anmerken, freute sich aber der Gelegenheit, seine Autorität geltend machen zu können.
    »Ist das eine Faulheit bei dem Fährmann!« raisonnirte er. »Mach’ vorwärts und bleib’ nicht so weit zurück, sonst schreib’ ich Dich ins Anzeigebuch!«
    Der Getadelte antwortete nicht, gab sich aber Mühe, einem zweiten Verweise zu entgehen.
    Es gelang ihm nicht.
    »Nun, soll ich Dich eintragen oder willst Du nun endlich einmal arbeiten?«
    Jetzt hob der Angeredete den Kopf und sah den Sprecher mit einem Blicke an, in welchem Vorwurf und Bitte zugleich lag.
    »Ich bin krank gewesen, Hilbertfranz, und hab’ noch nicht die Kräfte wieder!«
    »Was, Du nennst mich beim Namen? Ist Dir’s nicht gesagt worden, daß Du mich nur ›Piquet‹ zu rufen hast? Das muß bestraft werden!«
    Bei dieser Drohung wurde die Gestalt des Anderen um einige Zoll höher, und sein mattes Auge begann zu leuchten.
    »Ich mach’s grad’ so wie Du! Du hast mich beim Namen gerufen und darfst nur die Nummer sagen. Zeig’ mich doch an, wenn Du denkst, daß Du Recht behältst, aber zum Fürchten bringst mich wohl nicht sogleich!«
    »Das wird immer besser! Wer so unverschämt ist, das Piquet ›Du‹ zu nennen, der wird arretirt. Ich werde das Signal geben, daß Du abgeholt wirst und in die Straflöcher kommst!«
    »Mach’ Dich nicht groß, Hilbertfranz! Wenn Du den Rock weg thust, den wir respectiren müssen, weil er vom König ist, so bleibt nichts übrig, als ein Schustergesell’, der als der größte Lüdrian von Oberdorf bekannt ist. Und den soll ich ›Sie‹ nennen, wie’s in der Hausordnung steht? Da mag der Herr Director uns doch einen Mann herstellen, den man ehren kann!«
    »Gut, Du willst’s nicht anders haben!«
    Ohne den zu Beaufsichtigenden den Rücken zuzukehren, näherte er sich der Pforte, hinter welcher einer seiner Kameraden postirt war.
    »Posten an der Pforte!«
    »Hier!«
    »Zwei Mann mit Unterofficier zur Arretur heraus!«
    Während das Verlangen von Posten zu Posten weitergegeben wurde, um auf diese Weise in die Wachtstube zu gelangen, trat der Soldat wieder näher.
    »Nun arbeite fort, bis sie kommen, sonst wird die Strafe doppelt!«
    »Fällt mir jetzt gar nicht ein! Ich bin Corporal gewesen und kenn’ den Dienst so gut und noch besser, als so ein Schusterbub’, der noch in die Schul’ gegangen ist, als ich längst die goldne Litz’ am Kragen trug. Wirst wohl ganz nach Deinem Bruder, dem schönen Reiterkurt, gerathen!«
    Das lange und widerstandslose Dulden hatte einen Grimm in ihm aufgehäuft, der jetzt zum vollen Ausbruche kam. Er sollte arretirt werden, und nun war es ihm gleich, ob die Strafe um Einiges größer wurde oder nicht.
    Die Anderen freuten sich über seinen Muth, wagten aber nicht, ihre Theilnahme zu erkennen zu geben, sondern arbeiteten emsig weiter. Auch der Soldat hatte seinen Gleichmuth verloren.
    »Schimpf’ immer auf ihn, Du Cassenfälscher Du; er hat Dir doch die Frau hinweg genommen. Morgen ist Hochzeit, und ich bin auch geladen! Willst nicht mit hinaus?«
    Fährmann trat einen Schritt zurück. Er hatte die Frau, die ihm schon nach kurzer Ehe untreu wurde, längst aufgegeben; er mußte sie hassen und war ihrem Verlangen nach Scheidung mit keinem Worte entgegengetreten. Und doch machte die Nachricht, die darauf berechnet war, ihn tief zu kränken, einen nicht geringen Eindruck auf ihn. Er dachte an sein Kind, welches von so einem zweiten Vater sicherlich nichts Gutes zu erwarten hatte.
    »Den Reiterkurt nimmt sie? Da greift sie selber nach der

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