Die Rosen von Montevideo
Leid sie ungleich mehr quälte – die größte Sehnsucht in ihrem Leben nämlich unerfüllt geblieben war.
Leonora träumte davon, dass Menschen sich nach ihr umdrehten und hinter ihrem Rücken bewundernd über sie tuschelten.
»Wie vornehm sie auftritt! Was für eine vollendete Haltung sie an den Tag legt! Wie prächtig ihre Kleidung anzusehen ist!«
Ja, all das sollte man über sie sagen.
Doch trotz des schönen Hauses, in dem sie lebte, trotz der edlen Einrichtung, die sie hingebungsvoll ausgesucht hatte, trotz feiner Speisen, die sie auftischen konnte – sie fühlte sich wie ein Bauerntrampel und wusste, dass man nicht voller Bewunderung über sie klatschte, sondern voller Spott, und dass sie nicht voller Anerkennung gemustert wurde, sondern voller Hohn.
Leonora machte sich keine Illusionen: Sie war zu fett und ihre Tochter Isabella zu mausgrau. Mit letzterem Umstand konnte sie leben – eigentlich kam es ihr ganz zupass, dass Isabella einen so nichtssagenden Anblick bot, denn gegen eine schönere Tochter wäre sie noch mehr abgefallen –, aber nur die Zweithässlichste, Zweitunscheinbarste in der Familie zu sein, war nichts, worauf sie stolz sein konnte.
Valeria war ohne Zweifel schön – und wenn sie sie früher betrachtet hatte, hatte sie sich insgeheim gedacht, dass die Nichte ihres Mannes genau das junge Mädchen war, das sie selbst immer gerne hätte sein wollen, frisch und lebendig, gut erzogen, aber nicht steif, eine Europäerin, der Schick und Eleganz in die Wiege gelegt worden waren.
Als sie sie allerdings heute erblickte, empfand sie weder Bewunderung noch Neid – nur blankes Entsetzen und ein klein wenig Empörung, von der sie nicht recht sagen konnte, welchem Umstand sie galt: dass Valeria so grässlich anzusehen war – oder dass sie sich keine Mühe gab, sich in diesem Zustand vor ihr zu verstecken.
Leonora war eben die Marktstände entlangflaniert, hatte sich erst mit dem Fischer angelegt, dessen Ware in ihren Augen zu viele Gräten aufwies, dann mit dem Obsthändler, weil dessen Orangen gewiss nicht süß waren, zuletzt mit dem Tuchhändler, weil dessen Stoffe Flecken hatten, als ihr Valeria förmlich vor die Füße gefallen war.
»Tante Leonora! Du musst uns helfen!«
Hätte sie ihren Namen nicht gerufen, sie hätte sie nicht erkannt.
Ihre erste Regung war es, vor ihr zu fliehen und lieber grätigen Fisch, saure Orangen und fleckigen Stoff zu kaufen, anstatt mit ihr gesehen zu werden. Doch sie war zu dick und schwerfällig, um davonzulaufen.
»Valeria …«, stammelte sie.
Leonora hätte sich zu Tode geschämt, so vor jemanden zu treten, den sie kannte: Die Haare waren verfilzt und strähnig, die Füße nackt und verhornt, die Hände rauh und schwielig mit dunklen Halbmonden unter den Nägeln, die Haut war dreckig und braun wie die von Bauersleuten. Der einst geschmeidige Körper war ausgezehrt wie ein räudiger Straßenköter, der Zug um den Mund streng, die rosigen Apfelbacken waren eingefallen. Nur in den Augen lag ein eigentümliches Leuchten, das Leonora irritierte. Sie war sich nicht sicher, ob es von Fröhlichkeit und Herzenswärme zeugte oder von Irrsinn.
»Valeria …«, stammelte sie erneut.
Nach dem Markt hatte sie eigentlich in die Apotheke gehen wollen, um eine Creme zur Straffung des Halses zu kaufen – alles war in ihrem Gesicht rundlich, nur der Hals war schlaff –, doch ehe sie auch nur einen Schritt machen konnte, hatte Valeria sie gepackt und in eine Gasse gezogen.
Eine wirre Rede folgte, die Leonora kaum verstand. »Heute zurück nach Montevideo gekommen … langer Marsch … durchs halbe Land … immer wieder verstecken … Kämpfe … Schüsse …«
Das Mädchen musste den Verstand verloren haben!
Mehrmals versuchte Leonora, sie zu unterbrechen, doch ehe sie ein Wort hervorbrachte, erkannte sie, dass Valeria nicht allein unterwegs war, sondern ein Mann an ihrer Seite verweilte, heruntergekommen wie sie, mit finsterer Miene und etwas angstvollem, gleichwohl stolzem Blick. Sein Körper wirkte gedrungen, kräftig und … gefährlich.
»Bitte, Tante Leonora«, schloss Valeria. »Du hilfst uns doch, oder? Ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Wenn Valentín Großpapa begegnen würde … oder Onkel Julio … nicht auszudenken! Ich wollte eigentlich mit Onkel Carl-Theodor reden, aber ich habe gehört, dass er vor einigen Tagen abgereist ist. Und ehe sich eine Gelegenheit bot, Claire abzufangen, habe ich dich gesehen und mir
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