Die Rosen von Montevideo
verdreht hatte. Er wusste auch nicht, wie viel Zeit vergangen und wo er nun gelandet war. Kurz wurde der Schmerz so übermächtig, dass er nicht einmal mehr seinen eigenen Namen wusste – inmitten dieser Schmerzenshölle ein regelrechtes Labsal, war er doch wenigstens von schrecklichen Erinnerungen verschont. Doch die kamen allzu bald wieder – vor allem die, wie ihn die Männer von Valeria fortzerrten, auf ihn einprügelten, ihn in dieses Loch warfen.
Er stöhnte. »Valeria …«
Ob wenigstens sie in Sicherheit war?
Es gelang ihm nicht, ihr Gesicht heraufzubeschwören und sich von diesem Anblick trösten zu lassen. So deutlich ihm vergangenes Leid vor Augen stand – über die glücklichen Stunden schien sich ein Tuch gelegt zu haben. Nur in Gedanken an seine Kindheit konnte er sich flüchten – an jene Stunden, da er sich auf den Schoß der Mutter geflüchtet hatte, wenn Pablo ihn wieder einmal piesackte. Dort war er in Sicherheit – dort fühlte er sich wohl …
Er stöhnte erneut auf. Was nützte es, sich jene angenehmen Stunden zu vergegenwärtigen? Seine Mutter war tot, und die Feinde, mit denen er jetzt zu tun hatte, waren weitaus hasserfüllter als sein eifersüchtiger Bruder.
Er schluckte, schmeckte sein eigenes Blut und hustete. Der Schmerz zerriss ihn, und ehe er sein Gefängnis betrachten konnte, sank er wieder in Ohnmacht.
Als er zum zweiten Mal erwachte, war der Schmerz nicht mehr ganz so übermächtig, die Erinnerungen an die Ereignisse klarer. Valerias Tante war zunächst freundlich gewesen und hatte sie ins Haus der de la Vegas’ gebracht, wo sie sich hatten ausruhen und stärken können. Doch wenig später waren dort Soldaten aufgetaucht, um ihn festzunehmen.
Er hatte gleich eingesehen, dass es sinnlos war, sich gegen sie zu wehren – Valeria nicht. Schützend hatte sie sich vor ihn gestellt, erst ihre Tante beschimpft, dann auch den Onkel, der mit den Soldaten erschienen war. Valentín hatte versucht, sie zu beschwichtigen, doch die Soldaten hatten ihn einfach fortgezerrt.
»Ich werde nicht zulassen, dass dir Übles passiert!«, hatte sie ihm nachgerufen. »Vertrau mir, ich tue alles für dich!«
Aber natürlich konnte sie all das Schreckliche nicht verhindern, das gefolgt war.
Er verdrängte die Gedanken daran und nutzte alle verbliebene Kraft, um sich aufzusetzen. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er endlich an der Mauer lehnte und sich umblicken konnte. Es war ein winziger Raum, in dem er hockte, der Fußboden klebrig und uneben, die Wände waren grau und kalt. Wahrscheinlich hatte man ihn in Montevideos Gefängnis gesperrt – in eines der alten Forts, wo einst die Soldaten untergebracht waren, die die Stadt vor den Portugiesen schützten. Er wusste nicht genau, wo sich dieses befand, denn er kannte die Stadt nicht halb so gut wie Pablo. Der war vor dem Krieg mit seinem Vater oft hier gewesen, um heimlich und gegen den Willen des Diktators Handel zu treiben. Wären sie aufgeflogen, hätten sie sterben können.
Jetzt würde er selbst sterben – dessen war er sich sicher. Denn egal, wo genau er gelandet war – das Einzige, was zählte, war, dass er von Feinden umgeben war.
Als er hörte, wie ein Schlüssel umgedreht wurde, zuckte er zusammen. Er wollte kein Feigling sein, sondern sich einen letzten Rest Stolz bewahren, aber er konnte nicht umhin, sich unwillkürlich zu ducken und in die nächste Ecke zu robben. Es nutzte ihm nicht. Drei Männer betraten die Zelle und stellten sich alsbald breitbeinig vor ihn. Zwei starrten gleichgültig auf ihn herab, der dritte grinste schief.
»Du bist also ein Gefolgsmann des verrückten Negers?«, fragte er.
Valentín hatte keine Ahnung, was oder wen er meinte. Erst nach einer Weile fiel ihm ein, dass von den Feinden oft behauptet wurde, Francisco Lopez sei das Enkelkind einer Negerin – warum sonst hätte er so wulstige Lippen und eine so breite Nase. Ebenso ging das Gerücht, dass er gar nicht aus Paraguay stammte, sondern aus Santiago del Estero in Argentinien.
Der grinsende Mann packte ihn an der Schulter und riss ihn hoch. Valentín biss sich auf die ohnehin schon geschundenen Lippen, konnte jedoch nicht verhindern, vor Schmerz aufzuheulen. Er wünschte sich, er wäre in diesem Augenblick ein wenig mehr wie sein Bruder. Für Pablo war die Ehre stets das Wichtigste gewesen. Er selbst hingegen trat lieber diese Ehre, als selbst getreten zu werden. »Ich bin ein Deserteur!«, rief er verzweifelt. »Ich will nicht
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