Die Rosen von Montevideo
im Bett lag – ihre Mutter. Tabitha trat näher. Auf dem Weg hierher war sie vielen armseligen Menschen begegnet, doch keiner bot einen so erbärmlichen Anblick wie Valeria Gothmann de la Vegas. Sie war zwar groß für eine Frau, aber schmal und ausgezehrt. Ihr Haar, irgendwann einmal eine volle, glänzende Mähne, hing strähnig über das Gesicht. Blut war aus einer Kopfwunde getropft und auf Stirn und Schläfe verkrustet. Die Augen lagen in tiefen Höhlen.
»Carlota? Carlota, bist du da?« Die Stimme klang verlöschend leise. Tabitha suchte nach Ähnlichkeiten, nach irgendetwas, was vertraut war und ihre Blutsverwandtschaft bewies. Doch diese Frau war für sie eine Fremde.
»Du musst von irgendwoher Wasser holen!«, befahl der Vater und sah sie immer noch nicht an.
»Ach Valentín, wir brauchen kein Wasser, das hilft mir nun auch nicht. Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, Carlota. Wo warst du?«
Tabitha wusste nichts zu sagen, sondern setzte sich ans Bett und ergriff die Hand der Frau. Sie war kalt, aber der Druck fest. Valeria schien sich damit zu begnügen, denn sie bohrte nicht weiter nach. Ihre Augen waren weiterhin geschlossen – war sie wirklich blind?
»Was ist geschehen?«, fragte sie leise. Ihre Stimme zitterte immer noch.
»Sie hat einen Schlag auf den Kopf abbekommen«, erklärte Valentín. »Seitdem kann sie nicht mehr sehen.«
»Wart ihr schon im Krankenhaus?«
»Wo denkst du hin? Das ist doch viel zu weit!«
»Aber wenigstens sollte ein Arzt …«
»Du weißt doch, dass wir kein Geld haben, um uns einen Arzt zu leisten.« Er klang sehr wütend, und Tabitha zuckte zusammen.
»Nun lass sie doch in Ruhe«, schaltete sich Valeria wieder ein. »Ich bin sicher, es wird alles in Ordnung kommen, wenn ich nur ein wenig geschlafen habe.«
Tabitha war skeptisch – zugleich wuchs ihr Mitleid mit dieser Frau, die sich so tapfer gab, obwohl sie sich bestimmt elend fühlte.
Valentín ging nach unten. »Ich werde selbst Wasser holen«, rief er noch, »und etwas zu essen.«
Er verließ das Haus, ohne sie auch nur einmal gemustert zu haben, und Valeria fragte zwar wieder, wo sie gewesen war, zeigte aber keinerlei Misstrauen.
»Ich wollte zu Claire«, sagte Tabitha kleinlaut, »aber dann bebte plötzlich die Erde, die Menschen sind in Panik geraten … Da waren so viele Verletzte … und Tote. Ich habe in einer Kirche Unterschlupf gefunden. Ach Mutter, es tut mir so leid, was dir zugestoßen ist …«
Das tat es tatsächlich, aber als Valeria ihr über die Wangen streichelte, musste sie sich eingestehen, dass ihr die Blindheit der Mutter ganz zupasskam. Ihre Täuschung war tatsächlich geglückt.
In den ersten Tagen rechnete Tabitha ständig damit, aufzufliegen, doch wider Erwarten konnte sie ihr Geheimnis wahren. Ihr kam zugute, dass Valentín voller Sorge um die Mutter war und sie kaum beachtete, und diese wiederum wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie mit ihrer Blindheit haderte und unter Kopfschmerzen litt.
Tabitha konnte es nicht fassen, dass kein Geld für einen Arztbesuch da war. Mehrmals stand sie kurz davor, zu den de la Vegas’ zu gehen, den Betrug aufzuklären und dafür zu sorgen, dass ihre Mutter eine ordentliche medizinische Behandlung erhielt. Doch das hätte bedeutet, dass sie auf eine Zukunft mit José hätte verzichten müssen. Also schluckte sie ihr Entsetzen über das Ausmaß von Valentíns und Valerias Armut hinunter und richtete ihre Aufmerksamkeit darauf, ihn zu finden.
Vor dem Erdbeben hatte sie ihn mit Isabellas Hilfe getroffen – doch damals hatte er nicht gesagt, wo er lebte, und jetzt fiel ihr niemand ein, den sie fragen konnte.
Der Zufall kam ihr zu Hilfe, denn eines Tages begegnete sie auf dem Weg zum Schneidersalon, für den sie die Näharbeiten verrichteten, einem Dienstmädchen der de la Vegas’. Es erledigte einfache Arbeiten im Garten und kannte José bestimmt. Zwar war es ein großes Risiko, es anzusprechen, aber Tabitha setzte darauf, dass man diesem Mädchen ohnehin nicht glauben würde, wenn es behauptete es, sie gesehen zu haben.
Sie lief auf die junge Frau zu und fragte unvermittelt, wo José Amendola lebte.
Das Mädchen musterte sie wie einen Geist. »Ich dachte, Sie wären in Deutschland, Niña Tabitha …«, stammelte sie verwirrt.
»Das tut nichts zur Sache. Weißt du, wo er lebt?«
»Nun, in der Ciudad Nueva.«
Das hieß, gleich in der Nähe von ihrem Viertel.
»Und wo genau?«
Das Mädchen zuckte die Schultern,
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