Die Rosen von Montevideo
lassen.
Sie versuchte, das Unbehagen zu verdrängen, legte sich aufs Bett, um sich eine Weile auszuruhen, und packte danach ihre Sachen. Sie sehnte den Abend herbei und fürchtete doch den Moment, da sie mit José die Stadt verlassen würde. Wo würden sie heute Nacht wohl schlafen? Oder würden sie womöglich gar nicht schlafen, sondern bis zum Morgengrauen durchreiten?
Sie fürchtete sich vor Pferden, und sie fühlte sich bereits jetzt schon elend und müde! Jedes einzelne Glied tat ihr weh, als hätte sie stundenlang geschuftet!
Schließlich gab sie sich einen Ruck und verließ noch lange vor dem Abend das Haus – weniger von der Angst getrieben, Valeria oder Valentín könnten sie später aufhalten, als von der Ahnung, dass sie sich nicht würde aufraffen können, wenn sie zu lange wartete. Ihr Magen knurrte, aber ihre Kehle schien so eng, dass sie gewiss keinen Bissen herunterbringen würde. Sie schlich auf Zehenspitzen hinaus, und Valeria hörte sie nicht oder war immer noch zu sehr in Gedanken versunken, um sie zur Rede zu stellen.
Auf der Straße rannte sie los, und die Schwere wich langsam aus ihren Gliedern. Bald … bald war sie mit José vereint, bald würde ein neues Leben beginnen, vielleicht hatte er recht, und die Schafzucht war tatsächlich einträglich. Sie würden auf dem Land leben, ein nettes Haus haben, vielleicht eines, das der Quinta von Tante Claire glich. Im Garten würde sie Blumen anbauen, wenn möglich sogar Rosen, sie würde Josés Kind großziehen, kochen lernen, ihre Kleidung nähen, sie würde …
Sie hatte die Kathedrale erreicht, und eben läuteten die Glocken so laut zur Abendandacht, dass ihr ganzer Körper zu dröhnen schien. Der Platz war wie immer voller Menschen, doch weit und breit war nichts von José zu sehen. Tabitha schlang ihr Tuch um die Schultern und ging vor dem Portal auf und ab. Die Schatten der Kuppel und der schlanken Türme wurden erst immer länger, dann matter. Die rostrote Sonne versank, frischer Wind zog auf. Und immer noch war weit und breit nichts von José zu sehen. Sie rief sich seine Worte ins Gedächtnis, war sich aber sicher, dass sie ihn nicht falsch verstanden hatte: Er hatte die Kathedrale als Treffpunkt genannt – und den Abend als Zeit. Weil er zuvor noch etwas zu erledigen hatte, wie er sagte. Ob ihm dabei etwas zugestoßen war?
Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich wusste sie, dass dem nicht so war. Wenn José nicht hierherkam, hatte er das willentlich so entschieden.
Inzwischen fror sie jämmerlich und ging nun immer schneller auf und ab, aber der bitteren Erkenntnis konnte sie nicht davonlaufen: Er hat Montevideo ohne mich verlassen. Frau und Kind sind ihm zu viel an Lasten, um ein neues Leben zu beginnen. Er hat seinen Spaß gehabt, aber jetzt will er keine Verantwortung übernehmen.
Die Füße wurden bleischwer, die Zähne klapperten, eine neue Welle der Übelkeit stieg in ihr hoch. Es waren jedoch nicht nur Entsetzen und Enttäuschung, die sich in ihr breitmachten, sondern auch Erleichterung. Sie könnte nach Hause zurückkehren, sie könnte sich ins Bett legen und schlafen, sie könnte etwas essen. So schäbig ihr Heim war, es war zugleich vertraut.
Allerdings – wie würde es morgen weitergehen? Was würde passieren, wenn Valentín und Valeria entdeckten, dass sie schwanger war? Wenn sie Glück hatte, würden sie sie nicht hinauswerfen, aber sie wäre auf ewig zum Leben in ihrem Haus verdammt und müsste nähen, bis ihr Rücken krumm und ihre Augen schlecht waren.
In Josés Gegenwart hatte sie geweint, doch jetzt blieben die Tränen aus. Kalter Schrecken erfasste sie, und sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so allein und von aller Welt verlassen gefühlt zu haben. Sie schloss die Augen, gab sich kurz dem Trug hin, alles wäre nur ein böser Traum, der Hoffnung, dass sie bald erwachen würde und sie die alte Tabitha wäre, die nie mit Carlota die Rollen vertauscht und José ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte …
Doch die Glocken, die zur Wandlung läuteten, brachten sie in die Wirklichkeit zurück.
Oh, wenn nur ihre Großeltern hier wären, wenn sie Albert auf den Schoß klettern könnte wie einst als kleines Kind, wenn Rosa ihr eine heiße Schokolade kochen würde!
Die Sehnsucht nach dem prächtigen Haus im Taunus überwältigte sie – und auch der Neid auf Carlota, die dort ein gutes Leben hatte, die besten Kleider trug, vorzügliches Essen serviert bekam, die nicht vor Liebeskummer verging … und die
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