Die Rosen von Montevideo
Anzahlung auf ein Grundstück sparen.«
Tabitha hatte noch nie von seinen Plänen gehört, von hier wegzuziehen. Im Grunde hätte sie liebend gerne dieses schreckliche Haus verlassen, um nie wieder zurückzukehren – am besten allein, ohne die Eltern, vor allem ohne den Vater.
»Es tut mir leid«, sagte sie kleinlaut. Sie war den Tränen nahe, Valentín jedoch starrte sie nur wütend an. »Das hilft jetzt auch nichts«, knurrte er.
»Was ist denn los?« Valeria, die ansonsten meistens oben im Bett liegen blieb, hatte sich die Treppe heruntergewagt und stand nun in ihrem dünnen Nachthemd, unter dem man ihre sehr knöchrig gewordene Figur erahnen konnte, in der Küche.
Valentín fuhr herum. »Was machst du hier? Willst du dir etwa den Hals brechen?«
»Ich ertrage es oben nicht länger! Und warum schreist du Carlota so an?«
Valentín grummelte etwas Undeutliches – offenbar wollte er sich nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen, ob der unnötige Einkauf von Granatäpfeln nun Schelte verdiente oder nicht.
»Begleite deine Mutter wieder nach oben«, befahl er knapp.
Tabitha nickte und war froh, ihm aus den Augen zu kommen. Jeder Schritt nach oben fiel quälend langsam aus, weil Valeria wieder einmal starke Kopfschmerzen hatte. Dennoch – die Tränen, die sie später vergoss, galten ihrem eigenen Los, für das der fremden Mutter hatte sie einfach keine mehr übrig.
In der nächsten Zeit ging Tabitha Valentín so gut wie möglich aus dem Weg. Sie war jedes Mal erleichtert, wenn er bald morgens das Haus verließ und sie mit Valeria alleine war, die ihre Verzweiflung über die Blindheit nie an ihr ausließ. Tabitha ahnte, dass sie die Mutter, die ihr nun immer vertrauter wurde, von Herzen gernhaben könnte, aber sie wollte sich keine tiefen Gefühle erlauben. Diese hätten es ihr nur unnötig erschwert, ihr und Carlotas Geheimnis zu wahren.
Auch so drohte es eines Tages ans Licht zu kommen. Tabitha war mit neuen Näharbeiten beschäftigt, und Valeria saß bei ihr.
»Ich habe das Gefühl, das Nähen geht dir schneller und leichter von der Hand als früher«, sagte die Mutter leise.
Und ehe sie bedachte, was sie da sagte, rutschte es Tabitha heraus: »Oh, wenn ich nicht nähen könnte, wüsste ich ja gar nicht, wie ich das alles ertragen könnte.«
Erschrocken biss sie sich auf die Lippen, aber es war zu spät. Zwar bezog Valeria ihre Sorgen auf ihre Blindheit, nicht die Armut, doch etwas anderes ließ die Mutter stutzen. »Seit wann nähst du denn gerne? All die Jahre war es dir immer eine Qual!«
Tabitha rang nach Worten, aber ihr fielen keine ein, um ihren Fehler glattzubügeln. Obwohl Valeria blind war, schien sie sie eindringlich zu mustern.
»Carlota, was ist denn mit dir? Warum antwortest du nicht?«
»Nun ja … seit dem Erdbeben … sehe ich alles etwas anders«, begann sie stammelnd. »Ich meine, so viele Menschen haben so viel verloren, nicht zuletzt du dein Augenlicht. Da wäre es doch kleinlich, mich über meine Arbeit zu beschweren.«
Valerias Misstrauen schwand nicht. »Du hast dich doch immer danach gesehnt, reich zu sein. Und damit soll es jetzt plötzlich vorbei sein?«
Tabitha setzte zu einer salbungsvollen Erklärung an, wonach Reichtum nicht alles im Leben wäre, doch sie fürchtete, den Argwohn dadurch nur zu vergrößern, und erhob sich stattdessen hastig. »Ich muss frische Luft schnappen, die Luft hier drinnen ist so stickig.«
Und ehe Valeria etwas sagen konnte, eilte sie schon nach draußen.
Zumindest Letzteres war keine Lüge. Die Luft im Haus war tatsächlich schlecht, und sie hatte sich zunehmend unwohl gefühlt. Seit dem Morgen quälten sie überdies Kopfschmerzen, nun kam auch noch Übelkeit hinzu. Aber draußen im Hof wurde es leider nicht besser, im Gegenteil – der durchdringende Geruch, der ihr in die Nase stieg, ließ sie würgen. Irgendwo wurde wohl der Eintopf der armen Leute gekocht – in einem Topf, der auf einem heißen Stein stand und in den ein jeder das, was er beizutragen hatte, hineingab: Muscheln, Fleisch oder Gemüse. Beim letzten Mal, als sie davon gekostet hatte, hatte es ihr eigentlich gut geschmeckt, doch jetzt verstärkte der Geruch die Übelkeit. Sie würgte erneut, bis Tränen in die Augen stiegen. Was hatte sie heute bloß gegessen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, nur dass ihr schon beim Aufstehen etwas flau im Magen gewesen war.
»Carlota?«, rief Valeria von drinnen. Anstatt stehen zu bleiben, eilte sie weiter und
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