Die Rosen von Montevideo
verkrochen wie ein waidwundes Tier und war nach ihrer Verletzung wieder zu Kräften gekommen. Heute jedoch packte sie das Gefühl, sie säße in einem Gefängnis, nicht zuletzt, weil der Anblick der Küssenden sie daran gemahnt hatte, die Suche nach dem eigenen Glück nicht aufzugeben.
Unruhig ging sie auf und ab.
Als sie arm war, hatte sie sich danach gesehnt, reich zu werden, als sie Nicolas begegnet war, hatte sie davon geträumt, mit ihm ihr Leben zu verbringen. Konnte es sein, dass es nun nichts gab, das sie sich wünschen und auf das sie all ihre Kraft ausrichten konnte?
Doch, da war noch etwas – jene Sehnsucht, die Nicolas in ihr entfacht hatte und in der sie ihre Großmutter Rosa bekräftigt hatte: die Sehnsucht nach Musik.
In Claires Salon stand ein Klavier. Es war völlig verstaubt und verstimmt, und bis jetzt hatte dieser Anblick nur schmerzliche Erinnerungen an Nicolas hervorgerufen, doch jetzt überkam Carlota bei seinem Anblick die vage Ahnung, dass es auch für ihre Zukunft stehen könnte.
Sie trat zum Instrument, schlug den Deckel auf und strich zögerlich über die Tasten. Wieder musste sie an ihre Großmutter denken, die ihr auf der Reise nach Montevideo von ihrem Gesangsunterricht erzählt und dass sie diese Leidenschaft wegen dem tragischen Ende von Nicolas’ Großvater aufgegeben hatte.
Vielleicht sollte ich dort weitermachen, wo sie aufgehört hat, dachte Carlota.
Sicherlich gab es auch hierzulande die Möglichkeit, Gesangsunterricht zu nehmen. Es hieß zwar, dass die Sänger der Oper fürchterlich schreien würden, aber irgendwer war gewiss geeignet, ihr die Grundkenntnisse beizubringen. Auf diese Weise könnte sie sich die Zeit nützlich vertreiben und herausfinden, ob ihr Talent taugte, mehr daraus zu machen.
Sie fühlte sich glücklich, als sie den Entschluss getroffen hatte, doch als sie hinter sich ein Räuspern hörte, schlug sie schnell wieder den Deckel des Klaviers zu, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.
Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Claudio, der treue Kutscher von Tante Claire.
»Niña Carlota? Dieser Brief ist eben für Sie abgegeben worden.«
Er zog sich zurück, sobald er das Schreiben überreicht hatte. Carlota stockte das Herz, als ihr Blick auf den Absender fiel.
Nicolas Ledoux.
Sie hielt den Brief in zitternden Händen, wagte nicht, ihn zu öffnen, und spielte kurz mit dem Gedanken, ihn erst Tabitha lesen zu lassen. Doch das hätte bedeutet, dass sie warten müsste, bis diese sich von Antonio trennen konnte, und das würde dauern.
Entschlossen brach sie selbst das Siegel.
Die ersten Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Er schrieb von seinem Vater, dass er ihn anfangs unterstützt hatte, dass er zu spät geahnt hatte, worauf dessen perfider Plan tatsächlich hinauslief, und dass er mittlerweile endgültig mit ihm gebrochen hatte.
Meine Gefühle für Dich waren nur anfangs gespielt, das musst Du mir glauben. Am Ende habe ich mich wirklich in Dich verliebt, und nicht zuletzt darum tut es mir so unglaublich leid, was geschehen ist. Ich weiß, mein Verhalten ist unverzeihlich, und es wäre vermessen, auf mehr zu hoffen als auf Deine Vergebung – dass Du nämlich meine Gefühle immer noch erwiderst. Aber ich kann diese Hoffnung nicht unterdrücken, und darum schreibe ich diesen Brief. Wenn Du ihn unbeantwortet lässt, will ich Dich nie wieder bedrängen, aber wenn Du mir doch eine Antwort gewährst, so sei gewiss: Ich werde mich mit allem begnügen, und wäre es nur eine oberflächliche Brieffreundschaft.
Carlotas Hände zitterten immer noch, als sie den Brief sinken ließ. Sie konnte ihre Gedanken kaum sortieren und wusste nicht, ob und wie sie auf Nicolas’ Bitte reagieren sollte.
Sie blickte zum Fenster hinaus. Antonio und Tabitha hatten sich mittlerweile voneinander gelöst und saßen auf der Gartenbank. Antonio hielt die kleine Rosalia auf dem Schoß, und Tabitha streichelte ihre winzigen Füße. Für einen Fremden wirkten sie wie eine glückliche Familie, obwohl sie das nicht waren – noch nicht. Doch wenn Tabitha nach allen Irrungen ihres Lebens das Glück finden konnte, gab es vielleicht auch für sie und Nicolas Hoffnung. Mit einem Lächeln trat Carlota zurück zum Klavier, öffnete es ein zweites Mal und drückte auf die Tasten. Im Moment genügte ihr das vielleicht, um sich das erste Mal seit langem wieder auf die Zukunft zu freuen.
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Anhang
Personenverzeichnis
Die de la Vegas’
Alejandro,
Kaufmann aus
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