Die Rosen von Montevideo
ersten Mal jene Vorwürfe zu machen, die er sich sonst verkniffen hatte: dass er in der alten Zeit steckengeblieben war, als von den Bankiers kaum mehr verlangt wurde, als den Gegenwert von Münzen zu kennen und Fürstenhäusern Darlehen zu vermitteln, aber dass künftig die Beziehungen zu Handel und Industrie viel wichtiger waren.
All das hatte sein Vater nicht verstehen wollen.
Albert blickte hoch, als Carl-Theodor den Raum betrat. Sein jüngerer Bruder wirkte mitgenommen und seine Trauer ehrlich.
»Nachdem er den Schlaganfall erlitten hat und vom Pferd stürzte – war er dann sofort tot?«, fragte Albert.
»Ja, es ging sehr schnell. Ich war an seiner Seite, aber ich konnte mich nicht mehr von ihm verabschieden.«
Vielleicht war das eine gnädige Lüge – ein Trost für ihn, weil er so weit weg gewesen war und sich nun Vorwürfe machen könnte, im entscheidenden Moment gefehlt zu haben. Allerdings – warum sollte ausgerechnet Carl-Theodor ihn trösten? Mit seinem Vater hatte sich Albert gerieben und gestritten – sein Bruder war ihm immer fremd geblieben, obwohl sie nicht nur als Kinder viel Zeit miteinander verbracht hatten. Als Albert nach London ging, um ein Praktikum bei einer dortigen Bank zu machen, hatte Carl-Theodor ebenfalls England bereist und sich bemüht, in der Textilbranche von Manchester Fuß zu fassen, und ganz nebenbei auch das Land kennengelernt, während Albert immer nur in der Hauptstadt geblieben war. Eigentlich wäre Carl-Theodor dafür prädestiniert gewesen, nach Südamerika zu reisen, aber auf den Aufenthalt in England war einer in Paris gefolgt, wo er die Tochter eines Pariser Bankiers kennen- und lieben gelernt hatte, seine jetzige Ehefrau Antonie. Und so hatte Albert die Reise über den Ozean angetreten – und hatte nun auch eine Frau.
Er dachte an Rosa und was er ihr versprochen hatte: dass sie viele Reisen unternehmen und immer wieder ihre Familie in Montevideo besuchen würden. Er dachte auch daran, was er Julio versprochen hatte – enge geschäftliche Beziehungen zu pflegen und sowohl Export als auch Import ohne Zwischenhändler zu forcieren.
Aber nun …
»Ich werde deine Hilfe brauchen«, sagte Albert unwillkürlich.
Carl-Theodor hob die Braue.
Albert fuhrt fort: »Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir als Kinder in der Wechselstube Verstecken gespielt haben?«
»Vater hat das gar nicht gern gesehen.«
»Meist hat er es doch gar nicht bemerkt. Wir haben gegenseitig Wache gestanden.«
Ja, damals standen sie einander noch nahe – und die Wechselstube war ein faszinierender Ort gewesen. Heute repräsentierte sie veraltete Geschäftspraktiken.
»Später habe ich mich dort gelangweilt«, gab Carl-Theodor unumwunden zu.
Albert unterdrückte ein Seufzen. Sein Bruder war zwar stets neugierig gewesen, jedoch nie sonderlich pflichtbewusst. Er gab immer seinen Leidenschaften nach und ließ sich von momentanen Interessen leiten. Nicht zuletzt darum hatte er auch Hals über Kopf Antonie geheiratet, obwohl jene eine so kühle, spröde Frau war. Ob er es insgeheim schon bereute?
Nun, eine überstürzte Ehe konnte er seinem Bruder gewiss nicht zum Vorwurf machen. Und er war fest entschlossen, seine eigene Ehe nie zu bereuen. Auch Rosa sollte das nicht, obwohl die Zukunft nun anders aussah als geplant.
»Wir müssen zusammenarbeiten«, erklärte Albert.
»Das Bankgeschäft liegt mir nicht.«
»Das meine ich auch nicht.«
Er griff in seine Brusttasche und zog das Notizbüchlein mit all seinen Reiseschilderungen hervor. Er brauchte es nicht mehr. Carl-Theodor würde die Reisen an seiner Stelle machen – ob nun mit oder ohne Antonie –, während er in Frankfurt bleiben würde mit Rosa an seiner Seite. Was, wenn sie sich nicht wohl fühlte? Wenn sie vor Heimweh verging?
Allerdings war Rosa jung und begeisterungsfähig, sie würde sich rasch an das neue Leben gewöhnen und ihre Familie nicht sonderlich vermissen. Sie schien ihren Vater ohnehin nicht zu mögen und ihren Bruder Julio auch nicht.
»Unsere Bank hat einen alten Namen und eine große Zukunft, vorausgesetzt, wir bleiben liquide. Und das bedeutet, dass wir in den Handel einsteigen müssen – den Handel in Übersee. Ich habe in Montevideo viele wertvolle Kontakte geknüpft, aber ich werde keine Zeit haben, mich darum zu kümmern.«
Carl-Theodor setzte sich auf den Stuhl des Vaters, was Albert wie ein Sakrileg vorkam. Er selbst hätte es nicht gewagt, obwohl dies doch eigentlich nun sein Platz
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