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Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin

Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin

Titel: Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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gegen eine schreiende, anklagende Helene durchgesetzt und war zum Studieren nach Southampton gegangen. Sie hatte sich mit zahlreichen Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, war in abgetragenen Mänteln mit zu kurzen Ärmeln und in löchrigen Schuhen herumgelaufen, hatte gelernt und geschuftet und es vermieden, auch nur für einen Moment innezuhalten und nach rechts oder links zu sehen. Jetzt lag alles hinter ihr, sie hatte einen Abschluß in Anglistik und Romanistik in der Tasche, fand aber noch keine Arbeit und stürzte in ein schwarzes Loch. Sie konnte sich nicht ablenken. Die verdrängten Geschehnisse, Ängste und Sorgen stiegen unaufhaltsam in ihr hoch, überschwemmten sie förmlich, rissen sie in die Tiefe. Zum erstenmal stellte sie sich dem Gefühl, das der Tod ihrer Eltern in ihr ausgelöst hatte, und begegnete einem Schmerz, der sie in seiner Heftigkeit nach Luft ringen ließ. Auf einmal begriff sie, daß sie alles verloren hatte. Sie hatte keinen Menschen mehr auf der Welt, der zu ihr gehörte. Zu den Verwandten in England, den wenigen, die es überhaupt noch gab, hatte sie kaum Kontakt, sie waren Fremde für sie. Deborah und Andrew waren tot. Sie hatte das Gefühl, nach Guernsey nicht zurückkehren, die Insel, das Haus nicht ertragen zu können. Damit gab es auch die Heimat nicht mehr. Sie bewegte sich im luftleeren Raum. Um sie herum existierten nur noch Traurigkeit und tiefer Schmerz.
    Sie wohnte im Osten Londons, in einer der deprimierenden Arbeitersiedlungen, in denen noch immer nicht die Schäden, die durch die deutschen Bomben entstanden waren, repariert worden waren. Hier fehlte ein Teil des Daches, dort waren zersprungene Fensterscheiben durch vorgenagelte Pappe ersetzt worden. Bauschutt türmte sich in Hinterhöfen und manchmal auch mitten auf der Straße. Im Sommer hatte mancher belaubte Baumast über eine Mauer geschaut, aber nun, im Herbst, ragten nur kahle Zweige in den grauen, wolkenverhangenen Himmel und verstärkten den Eindruck völliger Trostlosigkeit.
    Beatrice hatte ein Zimmer in der Bridge Lane gemietet, in einem grauen, schmutzigen Haus, vor dessen Tür immer Pfützen standen, um die man herumbalancieren mußte, und auf dessen Treppenstufen im Hausinnern Müll lag und jede Menge leere Flaschen herumstanden. Die meisten Bewohner des Hauses waren arbeitslos,
viele waren zudem Alkoholiker, lebten als Großfamilien zusammengepfercht in winzigen Wohnungen. Heftige Streitigkeiten und Gewalttaten waren an der Tagesordnung. Beatrice konnte nicht umhin, das meiste davon mitzubekommen, was sie noch trübsinniger und verstörter werden ließ. Sie verdiente ihren kärglichen Lebensunterhalt als Französischlehrerin bei reichen Damen der Gesellschaft, und es deprimierte sie, am Abend aus den schönen, gepflegten Häusern im Londoner Westen zurückzukehren in das Abbruchviertel, in dem sie selbst lebte. Sie hatte nicht studiert, um Vokabeln und Grammatik in mühevoller Kleinarbeit in die Köpfe begriffsstutziger, verwöhnter Frauen zu pflanzen. Aber ohnehin kam es darauf schon fast nicht mehr an. Selbst wenn sich ihr Traum, in einem Buchverlag zu arbeiten, plötzlich erfüllt hätte, wäre sie nicht glücklich gewesen. Die Verluste, die sie erlitten hatte, wogen zu schwer. Das Gefühl der inneren Leere und Einsamkeit drückte sie zu Boden. Manchmal sehnte sie sich nach Guernsey, dachte an die Wiesen, die Klippen, an den Blick über das Meer und in den Himmel, der höher und klarer war als der Himmel über London. Aber sowie sie sich ein solches Gefühl, einen solchen Gedanken erlaubte, bezahlte sie gleich darauf mit dem Schmerz, den die hereinbrechenden Erinnerungen in ihr auslösten; sie dachte an ihre Eltern, an ihre Kindheit, an die Rosen und an die Wärme, mit der jeder einzelne Tag angefüllt gewesen war. Sie dachte auch an die Jahre des Krieges, an diese eigenartige Zeit, in der sie sich manchmal vorgekommen war wie in einem bösen Traum gefangen. Und schon war da wieder dieses dumpfe Gefühl in ihrem Kopf, wurde der Hals eng, fiel ihr das Atmen schwer; kaum mehr konnte sie Arme und Beine bewegen, und es war, als verlangsame sich unter dem Gewicht der Trauer sogar ihr Herzschlag.
    Nicht daran denken, befahl sie sich dann, nur nicht daran denken!
    Helene bombardierte sie mit Briefen, in denen sie sie beschwor, wieder nach Hause zu kommen.
    »Was willst Du in London?« schrieb sie. »In dieser kalten, häßlichen Stadt, in der es keinen Menschen gibt, den Du kennst, mit dem Du vertraut bist?

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