Die rote Agenda
Art
von Vorteil daraus zu ziehen, und nicht etwa auf ehrbare Richter gewartet,
denen er vertrauen könnte – und an denen es im Übrigen nicht mangelte.
Alimante
sah Branca mit der gleichgültigen Großmut eines Königs für seinen Bastard an.
Dank dem Dossier wusste er alles über ihn. Seit mehr als einem halben
Jahrhundert war er einer der gewieftesten Manipulatoren nicht nur der
sizilianischen, sondern der ganzen italienischen Geschichte gewesen. Auch
jetzt, wo er dem Ende nahe war, schien er die Welt mit dem Hochmut dessen zu
betrachten, der weiß, [111] durch Vermögen, Intelligenz, Erziehung und Bildung all
jenen überlegen zu sein, die ihn umgeben und ihm gedient hatten. Durch seinen Umgang
mit hochgestellten Persönlichkeiten hatte er jederzeit in sizilianische
Angelegenheiten eingreifen können. Er war eine Art Gattopardo, der angesichts
seines baldigen Todes beschlossen hatte, seinen Feinden, die nicht nur seinen
Sohn getötet, sondern ihn auch gezwungen hatten, es still zu ertragen, den
letzten, tödlichen Prankenhieb zu versetzen. Seit der Nachkriegszeit hatte es
kein Ereignis in der sizilianischen Politik und Wirtschaft gegeben, in das
Branca nicht auf die eine oder andere Weise verwickelt war und aus dem er
keinen Gewinn gezogen hätte. Jahrzehntelang hatte dieser Mann das unzerstörbare
Scharnier dargestellt, das in Sizilien legale und illegale Macht verbindet, und
hatte es dabei immer geschafft, nicht in Erscheinung zu treten und nicht in den
Schmutz gezogen zu werden. Er war einer jener mächtigen Männer, die davon
überzeugt sind, für ihr Handeln niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, am
allerwenigsten dem Staat, auch wenn sie Verbindungen mit der Mafia eingehen.
Zu seinem
Status des Unantastbaren hatte die Rolle beigetragen, die sein Vater während
des Kriegs gespielt hatte. Am 3. September 1943 befand sich Vito Branca im
sizilianischen Cassibile, zusammen mit General Castellano, dem Mann, den der
König und Marschall Badoglio geschickt hatten, um mit den Alliierten über die
Kapitulation Italiens zu verhandeln. Aus welchem Grund, mit welchen Aufgaben
und in wessen Auftrag Vito Branca, ein einfacher Offizier auf Zeit des Servizio automobilistico, sich im Gefolge der italienischen
Kommission dort aufhielt, fragte sich bis heute niemand.
[112] Alimante
wusste es natürlich. Die Antwort konnte man in Washington nachlesen, in einem
Dokument des State Department vom 27. November 1944, abgefasst von Alfredo T.
Wester, dem amerikanischen Generalkonsul in Palermo, der es an den Secretary of
State geschickt hatte, mit dem bezeichnenden Titel: »Bildung einer die
Autonomie Siziliens favorisierenden Gruppe unter Führung der Mafia.« In der
Anlage Nr. 1 berichtet Wester, wie die Frage des Separatismus Siziliens am
grünen Tisch erörtert worden sei, als die hohen amerikanischen Offiziere mit
den wichtigsten Persönlichkeiten der Insel, darunter der damalige Mafiaboss
sowie Vito Branca, zusammenkamen. Dabei wurde der sizilianische Mafiaboss vom
alliierten Geheimdienst beauftragt, hinter dem Rücken der deutsch-italienischen
Truppen die Landung in Sizilien zu organisieren. Welche Verbindung zwischen dem
Boss und Vito Branca bestand, ist leicht zu erahnen. Später, in der
Nachkriegszeit, kam dann Attilio in den Genuss der von seinem Vater bei dieser
Gelegenheit erhaltenen Vergünstigungen. Doch er erwies sich gleich als
skrupelloser als sein Vater, außerdem als einer, der mit der Zeit Schritt
hielt.
Branca gab
Salvatore, der immer noch schweigend neben seinem Sessel ausharrte, einen fast
unmerklichen Wink, und Partanna zog einen Umschlag aus der Innentasche seiner
Jacke und reichte ihn Branca.
»Dies sind
die Fotokopien des Dokuments, von dem ich gesprochen habe«, sagte der
Sizilianer und gab den Umschlag an Alimante weiter. »Das Original ist, wie
gesagt, in London gestohlen worden. Ihr werdet schon auf der ersten Seite
erkennen, worum es sich handelt.«
[113] Alimante
riss den Umschlag auf, nahm die gebundenen Seiten heraus und begann sie
durchzublättern. Tatsächlich wusste er sofort, was er in Händen hielt.
»Eine echte
Zeitbombe«, lautete sein Kommentar, als er den Blick wieder hob.
Der Alte
lächelte zufrieden. »Da habt Ihr recht, Don Giorgio, da habt Ihr recht… Das ist
mein Erbe für Euch.« Dann fügte er mit außergewöhnlich zerknirschter Miene
hinzu: »Ihr müsst mir verzeihen, dass ich Euch nicht das Original gebracht
habe.«
Alimante
schenkte ihm ein ebenso
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