Die rote Agenda
verständnisvolles wie falsches Lächeln, doch jetzt
hatte er allmählich genug von den Förmlichkeiten.
»Don
Attilio, Ihr wollt, dass ich Gerechtigkeit übe. Doch ich bin weder der
italienische Staat noch Interpol, noch die CIA .«
Mit einem
sanften Ausdruck auf dem Gesicht neigte Branca seinen Kopf ein ganz klein wenig
zur Seite und starrte ein paar Sekunden lang aus seinen kalten blauen Augen in
die ebenso eisigen Augen Alimantes. Als er sprach, hatte sein immer noch
ehrerbietiger Ton einen harten Beiklang.
»Ihr seid
viel mehr, Don Giorgio, viel mehr«, verkündete er feierlich. »Deshalb mache ich
Euch diese Papiere zum Geschenk. Ihr werdet entscheiden, was damit zu tun ist.
Ein Letztes noch – ich bin sicher, das wird Euch interessieren. Der arme Tano
war mit Salvatore im Auktionshaus Sommer’s für die Übergabe verabredet. Nun
gut, in dem letzten Telefonat mit Salvatore konnte Tano, bevor er entführt
wurde, gerade noch sagen, dass er die Agenda ebendort, bei Sommer’s, versteckt
habe, an einem Ort, wo Dokumente des [114] Schriftstellers Arthur Conan Doyle
aufbewahrt wurden. Kurz darauf wurde der Sherlock-Holmes-Experte Richard
Lowelly Grey getötet. Die Mörder stellten sein Haus auf den Kopf, haben aber
nichts gestohlen. Ganz offensichtlich suchten sie etwas. Was meint Ihr?«
Alimante
fixierte seinen Gesprächspartner. »Fahrt fort, Don Attilio, ich höre…«
Branca
zuckte die Achseln. »Ich bin zu alt und zu krank, um zu kämpfen, Don Giorgio,
doch vor allem habe ich nicht die Zeit. Ich weiß, dass der getötete englische
Gelehrte der Sohn eines teuren Freundes von Euch war.«
Bei diesen
Worten erstarrte Alimante, und zwischen seinen Augenbrauen grub sich eine feine
Falte ein. Für seinen Geschmack wusste dieser alte Mafioso zu viel.
Branca
beeilte sich, ihn zu beruhigen: »Der Zufall, Don Giorgio! Nur der Zufall wollte
es, dass ich Kenntnis davon erhielt. Ein Freund, der so alt ist wie ich und den
Ihr sicher vom Hörensagen kennt, der bedeutende Professor Roversi, Inhaber des
Lehrstuhls für englische Literatur an der Universität Mailand, ist Mitglied
derselben englischen Gesellschaft, der auch Lowelly Grey angehörte. Als wir nun
über den schrecklichen Vorfall sprachen, erzählte er mir von dem berühmten
Schüler, den Lowelly Greys Vater in Oxford hatte. Also von Euch, Don Giorgio.«
Alimantes
Blick wurde noch aufmerksamer. Doch Branca verzog keine Miene und erwiderte den
Blick, begleitet von einem bedeutungsvollen Lächeln.
»Und
jetzt?«, fragte Alimante.
Branca
machte Anstalten, sich aus dem Sessel zu erheben, und Salvatore Partanna war
ihm behilflich. Als er [115] aufgestanden war, reichte der Alte Alimante, der sich
seinerseits erhoben hatte, die Hand.
»Ihr müsst
mir verzeihen, Don Giorgio, wenn ich so vermessen war zu denken, dass auch Ihr
den Wunsch haben könntet, Richard Lowelly Grey zu rächen, wie ich den Tod des
armen Tano am liebsten rächen würde. Doch für diese Dinge bin ich zu alt und zu
krank. Wie dem auch sei, ich möchte Eure Freundlichkeit nicht länger in
Anspruch nehmen. Ich danke Euch dafür, mir diese Begegnung gewährt zu haben,
und wünsche Euch alles Gute. Lebt wohl, Don Giorgio, ich glaube nicht, dass wir
uns wiedersehen.«
[116] 17
Matteo
Trapani alias Lorenzo Malacrida betrachtete sich im Spiegel. Er war ein
attraktiver Mann von fünfundvierzig Jahren, groß und schlank, gutaussehend, mit
graumeliertem Haar und tiefliegenden dunklen Augen. Man hatte ihm einmal
gesagt, er habe Ähnlichkeit mit Richard Gere, und das hatte ihm gefallen. Wie
immer trug er einen italienischen Maßanzug, am Handgelenk eine Rolex Cellini
Prince in Platin mit Krokodillederband, eine sehr viel elegantere Uhr als die
massive Daytona in Gold, Statussymbol erfolgreicher Mafiosi. Und so passend,
schließlich nannte man auch ihn il Principe – den Fürsten.
Wie immer
an diesem schicksalsträchtigen Datum wurde er von Erinnerungen überwältigt. Es
hatte einen anderen Fürsten gegeben, vor ihm, an der Spitze der
palermitanischen Mafia, die auch die gemäßigte Mafia genannt wurde. Heute war
sein Geburtstag, und Matteo Trapani würde ihn feiern, wie er es jedes Jahr tat.
Bald würden die Gäste zu einem verschwenderischen Frühstück im Freien bei der
herrlichen Villa Malacrida im Turiner Hügelland eintreffen. Keiner der Gäste
wusste jedoch, dass in Wirklichkeit nicht der Hausherr, sondern ein Mann
gefeiert wurde, der vor dreißig Jahren gestorben war.
Der Fürst
von
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