Die rote Agenda
zu Lasten dieses Mannes waren unbestreitbar die ausführlichsten und
stichhaltigsten, die man je in Prozessen gegen Personen gesehen hatte, die als
»Externe einer mafiösen Vereinigung« angeklagt waren.
Obwohl der
Senator verurteilt worden war, hatte er, der eine Doppelrolle als Politiker und
Unternehmer im innersten Kreis der Macht spielte und mehrmals geschworen hatte,
sich im Falle einer Verurteilung aus der Politik zurückzuziehen, sein Wort
immer zurückgenommen und war schließlich triumphal ins Parlament eingezogen.
Branca
hatte recht, die Mafia hatte die Gesellschaft geformt. Mochten die durch das
institutionalisierte Verbrechen verursachten Schäden in Phasen wirtschaftlichen
Wohlstands vom Land aufgefangen werden können, so brachten sie zu Zeiten
schwerer ökonomischer Instabilität Gesamtkosten mit sich, die so belastend
waren, dass die Nation sie nicht mehr tragen konnte.
Alimante
verzog die Lippen zu einem kalten Lächeln. Die amtierenden Politiker hatten
wirklich einiges zu befürchten. Eine Unmenge Ermittlungsakten lag gegen sie
vor, und obwohl die Ermittlungen gegen die Beschuldigten aufgrund der
festgelegten Frist eingestellt worden waren, würden sie jederzeit bei
Auftauchen neuer Fakten wiedereröffnet werden können.
[207] Bald
würde es krachen. Der Schlag gegen den Senator würde einen unaufhaltsamen
Dominoeffekt auslösen. Und falls das nicht genügen sollte, würden sie zu sehr
viel drastischeren Mitteln greifen.
[208] 29
Verena
war dabei, die Koffer zu packen. Ogden hatte keine Einwände gelten lassen, sie
würde am nächsten Tag nach Zürich zurückkehren, vielleicht mit Paolo Astoni.
Sie hatte diesen Befehl akzeptiert, ohne zu protestieren, denn genau darum
handelte es sich: um einen Befehl.
Sie wollte
auch gar nicht bleiben. Obwohl dieses schreckliche Erlebnis ohne Folgen
geblieben war, hatte die Entführung sie gezeichnet. Es war ein unerträgliches Gefühl,
das ihr allerdings nicht fremd war. Von Kindheit an und bis ins
Erwachsenenalter hatte sie unter Ängsten gelitten. Dann hatte sich, dank der
Psychoanalyse und – seltsamerweise – auch dank der Begegnung mit Ogden, ihre
Neurose stabilisiert. Jetzt aber war die Angst zurückgekehrt, stärker als
zuvor, und sie empfand eine unbändige Sehnsucht, aus dieser Welt der Verbrechen
zu fliehen, auch wenn sie inzwischen wusste, dass sie, um wirklich zu
entkommen, auf einen anderen Planeten hätte flüchten müssen.
Gewiss, es
gab einen realen Grund, diesen neuen Gemütszustand zu rechtfertigen: das in den
letzten Stunden erlittene Trauma. Doch auch die verborgenen und schrecklichen
Dinge, von denen sie erfahren hatte, seit der Dienst in ihr Leben getreten war,
hatten für immer ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit verändert, enthüllten sie
ihr doch das [209] undurchdringliche Dickicht aus Komplotten, das sich über die
ganze Welt zog und von dessen Existenz sie nie etwas geahnt hatte.
Seit sie
Ogden kannte, hatte sie sich schon mehrfach in Gefahrensituationen befunden,
aber niemals auf diese Art reagiert. Eher war es so, dass die Furcht vor etwas
Konkretem sie vor ihren Gespenstern in Sicherheit zu bringen schien. Tief innen
jedoch hatte sie immer gewusst, dass diese Ruhe nur von kurzer Dauer sein würde – wie die kurzfristige Heilung der Patienten, die Freud in den Anfängen der
Psychoanalyse mit Hypnose behandelt hatte.
Sie hörte
es an der Tür klopfen und ging öffnen. Da sie dachte, es wäre Ogden, setzte sie
ein Lächeln auf, um ihre Stimmung zu verbergen. Doch es war Paolo.
»Alles in
Ordnung, Verena?«, fragte er und musterte sie besorgt.
Es waren
inzwischen Stunden seit ihrer Befreiung vergangen, aber er machte sich immer
noch Sorgen um sie.
»Alles
bestens, danke. Und bei dir?«
»Mir geht
es gut, mir geht es gut. Ich wollte mit dir über Ogdens Vorschlag reden. Du
sollst wissen, dass ich mich kategorisch geweigert habe, dich nach Zürich zu
begleiten. Ich habe nicht die Absicht, dich weiter in Gefahr zu bringen.«
»Wir werden
aber doch von Männern des Dienstes geschützt.«
Astoni
schüttelte vehement den Kopf. »Nein, die Mafiosi beziehungsweise ihre
Helfershelfer wissen, dass ich den Inhalt der Agenda kenne, und werden mich
weiter suchen.«
Verena
nickte. Paolos Überlegungen waren vollkommen [210] richtig, und ihr wurde klar,
dass Ogden diesen Vorschlag gemacht hatte, weil er genau wusste, dass Paolo
ablehnen würde.
»Bist du
sicher, dass du bei deiner Meinung bleibst?«, fragte sie. Doch sie
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