Die rote Agenda
detaillierte Schilderung der beiden Sizilianer doch neue Hintergründe
enthüllt. In gewisser Weise hatte Alimante sich wie ein Cäsar gefühlt, dem der
Statthalter einer abgelegenen Provinz an den Grenzen des Reiches mit
schuldhafter Verspätung mitteilte, dass eine Pestilenz sein Territorium
verwüste und unvermeidlich Rom erreichen werde.
Italien war
ein Land, das einen zur Verzweiflung bringen konnte, unberechenbar selbst für
die Beobachter der CIA , die seit einer Weile das
Handtuch geworfen hatten, ein einziges Intrigenknäuel, in dem sich vom
offiziellen Kurs abweichende, nicht abweichende oder halb abweichende
Geheimdienste, Falschinformanten und Manipulatoren im Dienste der einen oder
einer anderen Macht festgesetzt hatten. Destabilisiert durch versuchte
Staatsstreiche, durch falsche Freimaurer und Mafia-Freimaurer, gepeinigt von
den eigenen Politikern, Hütern schändlicher Geheimnisse und skandalöser
Dossiers, war das Land seit Kriegsende Gegenstand unzähliger [204] politischer
Experimente gewesen, mit Intrigen und Gegenintrigen der Amerikaner in seinen
mehr oder weniger verborgenen Strukturen, den nostalgischen Bruderschaften, den
verschiedenen Gladio-Organisationen, P2, P3 und wer weiß wie vielen anderen
Logen, bis niemand mehr etwas verstand. Und das war der einzige Trost.
Der zweite
Richter war nach Verhandlungen zwischen der Cosa Nostra und Teilen der
staatlichen Institutionen gestorben. Der Richter hatte unwiderlegbare Beweise
dafür gesammelt, wer den Befehl gegeben hatte, seinen Kollegen auf der Autobahn
bei Palermo zu töten. Doch als er sich weigerte, den Auftraggeber nicht zu
nennen, hatte er damit sein eigenes Todesurteil gesprochen.
Jeder
Kommentar über die unselige Dummheit dessen, der versucht hatte, einen Mann
dieses Formats zu korrumpieren, erübrigte sich. Da er den Computern nicht mehr
traute, nachdem die Dateien seines ermordeten Kollegen verschwunden waren,
hatte der Richter all seine Ermittlungsergebnisse in der Agenda notiert.
Nach seinem
Tod hatten viele Kronzeugen, von denen einige an den Attentaten beteiligt
gewesen waren, seine Schlussfolgerungen bestätigt. Doch die Agenda war damals
schon verschwunden.
Infolge der
Veränderung der politischen Landschaft Italiens waren skandalöse Reformen
verabschiedet worden, unter anderem ein Gesetz, das die Ermittlungen der
Antimafiabehörde erheblich behinderte, da es die Staatsanwaltschaft
verpflichtete, Aussagen reuiger Mafia-Aussteiger in nur sechs Monaten zusammenzutragen,
später sogar in drei.
[205] Natürlich
brauchte man, wie die beiden Richter bei ihren Ermittlungen gezeigt hatten,
sehr viel mehr Zeit, um die Zeugenaussage eines Aussteigers der Cosa Nostra zu
erhalten. Das offenkundigste Beispiel war die lange und heikle Vernehmung,
durch die der Antimafia-Pool die Enthüllungen des wichtigen Kronzeugen Tommaso
Buscetta beschafft hatte, auf denen der Maxi-Prozess gründete. Die Methode der
beiden sizilianischen Untersuchungsrichter war später auch von amerikanischen
Ermittlern angewandt worden, die über Jahre bei wichtigen Operationen mit ihnen
zusammengearbeitet hatten: Pizza Connection, Iron Tower und Pilgrim. Doch daran
schien sich die neue, ansonsten so proamerikanische Politikerriege nicht zu
erinnern.
Ärgerlich
schüttelte Alimante erneut den Kopf. Es gab keinen Zweifel daran, dass der
italienische Schlamassel der Kontrolle der Elite entgangen war. Doch die Dinge
würden sich grundlegend ändern. Wie Matteo Trapani gesagt hatte, »musste die
Mafia zur Normalität der alten Zeiten zurückkehren,
als die Mafiosi quasi als Mitarbeiter des Staates betrachtet wurden«.
Das waren
zwar nicht seine eigenen überzogenen Sehnsüchte, doch nach der politischen
Säuberung, die sie vorbereiteten, würde die Mafia sich tatsächlich nicht mehr
aufführen, als wäre sie der Staat, und sich nur noch unter der strengen
Kontrolle der Elite bereichern. Die für die Politiker vorgesehene Behandlung
jedoch würde radikaler und endgültiger sein.
Seinerzeit
hatten sie, auch wenn sie diesem zusammengewürfelten Haufen unterschiedlicher
Leute nicht wohlgesinnt waren, ihren Aufstieg nicht verhindert, weil sie davon [206] überzeugt
waren, dass es bei der nächsten Wahl mit ihnen vorbei sein würde. Doch von
einer Wahl zur nächsten taumelnd, waren sie über Jahre zäh an der Macht
geblieben und sogar bis ins Quirinal vorgedrungen.
Alimante
nahm eine Mappe, öffnete sie und begann das Dossier des Senators zu lesen. Die
Beweise
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