Die rote Agenda
»Vielleicht
stimmt es ja, dass Italien die Wiege krimineller Organisationen ist und dass es
der ganzen Welt beigebracht hat, wie man mit kriminellen Methoden weit kommt.
Aber ich möchte auch darauf hinweisen, dass allein in den letzten fünfzig
Jahren eine beeindruckende [222] Zahl von Italienern – insbesondere Richter,
Polizisten, Anwälte, aber auch unbekannte Durchschnittsbürger – sich unter
Lebensgefahr für den Staat und für Gerechtigkeit eingesetzt haben. Ich habe es schwarz auf weiß «, betonte er, »und kann eindeutig belegen,
dass nirgendwo auf der Welt je auch nur etwas entfernt Vergleichbares geschehen
ist.«
Alimante
drückte auf einen Knopf, die Tür des Festsaals öffnete sich, und ein Butler in
Livree trat ein und legte einen Stapel gebundener Manuskripte auf den Tisch.
Alimante nahm das erste vom Stapel und hob es hoch, zeigte es den Anwesenden.
»Hier sind
die Daten, die ich diesbezüglich gesammelt habe, praktisch die Zahl der Toten.
Wie ihr an der Dicke des Hefts sehen könnt, ist es eine sehr, sehr lange, wenn
auch unvollständige Liste. Ihr könnt sie zur Erinnerung behalten«, fügte er
hinzu, während der Butler die Hefte verteilte, um dann still wieder dort zu
verschwinden, von wo er gekommen war. Als die Tür sich geschlossen hatte,
wandte Alimante sich erneut an die Anwesenden.
»Nachdem
dies gesagt ist«, fuhr er entschlossen fort, »können wir weitermachen. Jetzt,
liebe Freunde, werde ich euch die zulässigen und unzulässigen Mittel darlegen,
mit denen ich in Italien zu Werk gehen werde. Eins ist klar: Ich beabsichtige,
die gesamte politische Klasse zu eliminieren, und ich meine das nicht nur
metaphorisch, sondern, wenn nötig, auch physisch. A baron
fottuto, baron fottuto e mezzo, sagen die Sizilianer. Was bedeutet: Wenn du einen
Mörder ausschalten willst, musst du mörderischer sein als er. Ist das
vielleicht nicht auch unsere Philosophie?«
[223] 31
Der
Senator zündete sich die wer weiß wievielte Zigarette an und starrte vor sich
hin, in das Halbdunkel des Zimmers in dem Turiner Hotel, wo er die Möbel im
schwachen Licht, das durch die Vorhänge drang, kaum erkennen konnte. Er war
todmüde.
Das für die
Kommunikation mit dem Präsidenten reservierte Handy läutete. Obwohl der Senator
kein offizielles Amt mehr innehatte, unternahm das Staatsoberhaupt nie etwas,
ohne ihn vorher zu konsultieren. Sie waren Freunde von Kindheit an, ihre
Karrieren hatten sich ebenso im Einklang miteinander entwickelt wie ihre
Vermögen.
Der Senator
erteilte dem Freund rasch und effektiv seine Ratschläge, und dieser dankte ihm
herzlich, wie immer.
»Ist
irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte der Präsident, dem die Nervosität des
Senators nicht entgangen war.
»Nichts von
Bedeutung. Ich ärgere mich nur, dass sie mir bei Sotheby’s einen De Chirico
weggeschnappt haben, an dem mir etwas lag«, antwortete er mit der erstbesten
Lüge, die ihm einfiel.
»Lass ihn
uns gleich zurückkaufen! Mach ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen
können.«
»Ich würde
nicht so sprechen wie ein Pate«, ermahnte ihn der Senator.
[224] Der
andere lachte. »Richtig! Aber egal, was ich sage, sie pflücken es mir sowieso
auseinander. Bald hast du Geburtstag, dann schenke ich dir einen De Chirico.
Falls es mir gelingt, einen echten aufzutreiben«, rief er in dem ungenierten
Ton aus, den er leider auch bei den Staatsmännern der halben Welt anschlug.
Dann
wechselten sie das Thema und sprachen noch ein paar Minuten miteinander. Zum
Schluss verabschiedete sich der Präsident zufrieden.
Der Senator
klappte das Handy zu, erhob sich, goss sich einen Cognac ein und trank ihn in
einem Zug aus.
Wenn sein
Freund nur geahnt hätte, in welchen Schwierigkeiten er sich befand, dachte er.
Jahre zuvor war die Entscheidung, sich der beiden Richter zu entledigen, ganz
allein seine gewesen, wenn auch unter strengster Geheimhaltung, unterstützt von
zwei seiner Getreusten, die zum Glück inzwischen tot und begraben waren. Der
Präsident, damals Sekretär der Partei, hatte so getan, als wüsste er von
nichts. Stehlen ja, töten niemals, war von Anfang an sein Motto gewesen. So war
immer er es gewesen, der sich die Hände schmutzig gemacht hatte. Nun ja, wenn
die Hölle existierte, würde sie gewiss seine nächste Bleibe sein. Doch da er
weder an Gott noch an seinen bösen Widersacher glaubte, hatte er immer darauf
gepfiffen und bei jeder Gelegenheit ohne Skrupel gehandelt, und vor allem ohne
Reue.
Der
Präsident
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