Die rote Agenda
Nachrichten zeigten sie
gerade den Abflug des Präsidenten nach Washington. Er erkannte auf der Gangway
den Mann, der – zumindest offiziell – seinen Posten als persönlicher Sekretär
des Staatsoberhaupts übernommen hatte.
»Ein
Komparse, nichts weiter als ein Komparse«, murmelte er verächtlich und
wechselte das Programm.
Um acht
beschloss er, im Hotelrestaurant zu Abend zu essen, obwohl er eigentlich keinen
Appetit hatte; doch er war seit dem Morgen nüchtern und wollte bei Kräften
bleiben. Außerdem ertrug er es nicht, sich auch nur eine Minute länger in
diesem Zimmer aufzuhalten.
Der Abend
und die Nacht verstrichen, ohne dass es Neuigkeiten gab, und am Vormittag des
nächsten Tages buchte [228] der Senator einen Flug für neunzehn Uhr. Der
Sizilianer hatte darauf bestanden, noch einen halben Tag zu warten.
Seine
Stimmung war auf dem Nullpunkt: Niemand hatte sich gemeldet, um Geld für die
Agenda zu fordern, was bestätigte, dass die Angelegenheit sehr viel ernster
war, als er gehofft hatte.
Das Telefon
läutete.
»Branca und
Partanna sind in Turin«, sagte der Sizilianer.
Der Senator
spürte einen Stich im Magen. Die Anwesenheit Brancas in der Stadt bedeutete,
dass er mit demjenigen, der versuchte, ihn zu vernichten, unter einer Decke
steckte.
»Was sollen
wir tun?«, fragte er aufgebracht.
»In Turin
bleiben. Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, dass sie mindestens bis morgen
hier sind. Sie halten sich in einem Hotel im Zentrum auf.«
»Kannst du
gleich etwas unternehmen?«
»Ja, hier
in der Stadt habe ich verlässliche Leute, außerdem habe ich ja zwei Männer
mitgebacht. Wir finden schon eine Möglichkeit, in Brancas Suite zu kommen, das
ist kein Problem.«
»Sei
vorsichtig. Wir wollen kein Aufsehen erregen.«
»Keine
Angst, es wird weder Tote noch Verletzte geben. Ich rufe Sie an, wenn alles
erledigt ist.«
Der Senator
klappte das Handy zu und sah sich um. Er hätte gern ein wenig frische Luft
geschnappt, doch der Sizilianer hatte ihm eingeschärft, sich nicht draußen
sehen zu lassen. Also beschränkte er sich darauf, hinaus auf den Balkon zu
treten. Er sog die Luft tief in seine Lungen ein, doch nach ein paar
Augenblicken nahm er missmutig den Geruch von Rauch wahr. Auf dem Balkon
nebenan stand ein großer [229] beleibter Mann und rauchte genüsslich eine dicke
Havanna. Der Mann lächelte ihn an und hob die Hand, in der er die Zigarre
hielt.
»Zieht der
Rauch in Ihr Zimmer?«, fragte er freundlich.
Der Senator
schüttelte den Kopf. »Nein, keine Sorge! Aber vielen Dank, dass Sie gefragt
haben.«
Er blieb
noch einige Augenblicke auf dem Balkon, ging dann zurück ins Zimmer und ließ
das Fenster weit offen.
Vom
Nachttisch nahm er das Buch, das er mitgebracht hatte. Essays
in Persuasion von John Maynard Keynes. Er schlug aufs Geratewohl
eine Seite auf und las: »Wir müssen eine neue Weisheit für eine neue Ära
erfinden. Und bis dahin müssen wir, wenn wir etwas Gutes tun wollen, heterodox,
problematisch, gefährlich und ungehorsam denen gegenüber erscheinen, die uns
vorangegangen sind.«
Er
lächelte. Hatte er vielleicht nicht genau das getan? Auch wenn er jetzt
vielleicht doch noch zur Kasse gebeten würde, bereute er es nicht. Mit siebzig
Jahren hatte er weder Familie noch Geliebte noch Kinder; seine Verwandtschaft
beschränkte sich auf irgendeinen Vetter auf der Insel, den er seit Jahren nicht
gesehen hatte. Die einzige Leidenschaft, die ihn wirklich zu packen vermochte,
mit Leib und Seele – wenn er denn eine hatte –, war die Kunst. Um seine
beachtliche Sammlung von Gemälden und Skulpturen zu erweitern, wäre er zu jedem
Opfer bereit gewesen.
Er fragte
sich erneut, was geschehen würde, wenn seine Verantwortung für die Ermordung
der beiden Richter ans Licht käme. Weder der Präsident noch der amtierende
Premier noch seine Partei würden ihn schützen, dessen war er sich sicher. Und
doch hatte ihre stillschweigende [230] Zustimmung sie ebenso schuldig gemacht wie
ihn. Aber sie waren Feiglinge, und um sich aus der Affäre zu ziehen, würden sie
ihn fallenlassen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Er konnte
einzig und allein auf den Sizilianer zählen. Er würde Branca zum Reden bringen,
und sie würden endlich erfahren, wer gegen ihn intrigierte. Vielleicht war
nicht alles verloren.
Andernfalls
würde er fliehen. Seit Jahren hatte er einen Plan in petto, wie er verschwinden
und ein neues Leben in einem Land ohne Auslieferungsvertrag mit Italien
anfangen könnte –
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