Die rote Antilope
veranstaltete Vater mit dem Kapitän ein Besäufnis. Daniel blieb an Deck, obwohl der Wind kalt war. Der baumlange Matrose stand am Steuerrad, ein anderer, der sein genaues Gegenteil war, mager und kleinwüchsig, zündete die Laternen an und saß dann auf dem Vorschiff im Ausguck. Daniel sah, daß draußen in der Dunkelheit Lichter glommen. Von der Achterkajüte hörte man das dröhnende Lachen des Kapitäns. Daniel dachte plötzlich, daß Vater ihn bestimmt sehr gern hatte. Obwohl es gewiß eine große Mühe war, hatte er diese lange Reise mit ihm unternommen. Er hatte ihm Kleider genäht, ihm die Sprache beigebracht und ihm vor allem gezeigt, wie man Türen öffnet und schließt. Wenn Be und Kiko ihn auch in den Nächten besuchten, war Vater doch immer da und kümmerte sich um ihn. Er hatte ihn sogar festgebunden, damit er nicht im Meer verschwand. Es wäre unrecht, wenn Daniel ihm nicht zu gegebener Zeit mitteilte, daß er gelernt hatte, auf dem Wasser zu gehen und daß er nun in den Sand und zu der Wärme unter den Fußsohlen zurückkehren wollte. Aber er würde ihm versprechen, nie zu vergessen, wie man Türen öffnet und schließt, auch wenn sich an den Stellen, an denen sie ihr Lager aufschlugen, nur äußerst selten Türen befanden.
Der Matrose, der die Laternen angezündet hatte, kam zu Daniel hinüber.
Sie standen an der Reling.
Der Himmel war ganz sternklar.
Er sagte, er hieße Tobias. Tobias Näver. Früher sei er Soldat gewesen, erzählte er, aber dann sei er von etwas gestrichen worden, was er die Liste nannte, da er bei einer Übung ein Bajonett in den Oberschenkel gerammt bekommen habe und fast verblutet sei. Danach sei er zur See gefahren. Einmal sei er sehr weit gesegelt, bis zum fernen Australien, mit einer englischen Barke, die »Black Swan« hieß. Er sei schon beinah entschlossen gewesen, in Australien zu bleiben, habe sich dann aber anders besonnen und sei zurückgekehrt. Danach habe er auf kleineren Schonern gearbeitet, die in einem Binnenmeer namens Ostsee in der Küstenschiffahrt verkehrten.
Daniel hörte zu. Tobias Näver sprach langsam, und Daniel verstand fast alles, was er sagte.
- Du bist weit weg von zu Hause, sagte er. Wenn ich es recht verstanden habe, bist du das Ziehkind von dem, der sich gerade mit dem Kapitän besäuft. Was ist eigentlich passiert?
Daniel fiel auf, daß es das erste Mal war, daß ihn jemand danach fragte, wer er war. Er machte einen Diener und bedankte sich.
- Du mußt dich doch nicht verbeugen und mir danken.
- Ich werde lernen, wie man auf dem Wasser geht, sagte Daniel. Dann werde ich nach Hause zurückkehren.
- Niemand kann auf dem Wasser gehen, entgegnete Tobias
überrascht. Die Narren, die es versuchen, gehen unter. Ein einziger Mann hat es gekonnt. Wenn es denn wahr ist.
Daniel horchte auf.
- Wer war das?
- Jesus.
Daniel wußte, wer Jesus war. Be und Kiko hatten manchmal von der seltsamen Gewohnheit der weißen Menschen gesprochen, ihre Götter an Planken zu nageln. So konnte man möglicherweise Feinde behandeln, die schreckliche Taten begangen hatten. Aber einen Gott an gekreuzte Planken zu nageln, war ebenso sonderbar wie erschreckend. Besonders, da die Weißen glaubten, er sei der einzige Gott, der existierte. Daniel hatte Bilder von dem mageren Mann mit der Dornenkrone gesehen. Aber daß er angeblich auf dem Wasser gehen konnte, davon hatte er nichts gewußt.
- Natürlich kann niemand sagen, ob es wahr ist. Wunder nennt man das. Und bestimmt kann das Unmögliche geschehen. Wir saßen einmal mit der »Black Swan« auf einem Riff fest. Wir wußten, daß wir im Sturm untergehen würden. Aber plötzlich legte er sich, und als wir das Schiff flottmachen konnten, war es tatsächlich seetüchtig.
Tobias spie einen Tabakstrahl über die Reling.
Daniel spürte große Beklommenheit. Sie saß wie ein Knoten direkt unter dem Herzen. Konnte ein Mensch auf dem Wasser gehen, wenn ein Gott es getan hatte?
Eine der Laternen war erloschen. Tobias ging hin, um sie wieder anzuzünden. Aus der Achterkajüte schallten Rufe, Vater war jetzt betrunken, das konnte Daniel hören. Seine Stimme war schrill, und er lachte ohne Freude.
Tobias kam zurück.
- Du kannst jederzeit auf Märkten auftreten, sagte er. Die Leute zahlen dafür.
- Was ist ein Markt?
- Ein Platz, wo man mißgestaltete Menschen vorführt, dicke Matronen, Männer, die am ganzen Körper behaart sind, Kerle, die ein Pferd heben können, Kinder, die zusammengewachsen sind, Kälber
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