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Die rote Farbe des Schnees

Die rote Farbe des Schnees

Titel: Die rote Farbe des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Holmy
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und reibt
das rasierte Kinn nachdenklich über seine ineinander verschränkten Finger. „Als
ich vor vielen Jahren in diesen heidnischen Winkel als Priester abbestellt
wurde, begegnete ich diesem Phänomen gleich am Tage meiner Ankunft. Nicht, dass
ich die Menschen hier für nicht gottesfürchtig genug hielte, denn sie sind
fürwahr gute Christen, doch die verbliebenen Spuren ihres einst heidnischen
Glaubens nahmen mich anfangs gegen sie ein. Dann hatte ich ein besonderes Erlebnis
und begriff, dass Gott auch zu ihnen spricht. Auf andere ... Weise.“
    „Ein besonderes Erlebnis“, hakt
Joan nach, worauf er nickt.
    „In Engedey lebte damals ein
Knabe von etwa zwölf Jahren. Ein sehr aufgewecktes Kind. Wenn er zu mir in den
Beichtstuhl kam, sprudelte er vor Phantastereien, raubte mir oft den letzten
Nerv, da es mir nicht möglich war, ihn zu verstehen. Einmal riss mir der
Geduldsfaden. Ich erlegte ihm Buße auf, da er mich ganz offenbar angelogen
hatte. Als ich noch hitzigen Gemütes aus der Kirche in die Sonne trat, stellte
er sich direkt vor mich, schloss die Augen und berührte mich an einer Hand. Was
ich daraufhin erlebte, kommt deinen Beschreibungen sehr nahe. Dieses bunte
Licht haute mich einfach von den Füßen. Als ich benommen im Staub liegend
wieder zu mir fand, lächelte mich der Bengel an. Ob ich ihn noch immer der Lüge
bezichtigte, wollte er wissen.“
    „So wisst Ihr, wovon ich rede“,
ruft sie euphorisch. „Und Ihr glaubt, Gott spricht aus diesem Licht?“
    Er lächelt. „Abgesehen davon, dass
etwas so Schönes nur von Gott gegeben sein kann, ich seinen Geist regelrecht zu
spüren glaubte, ... es gibt bedeutende Kirchenmänner, die sich darauf beziehen.
Nun erst verstand ich ihre Lehren.“ Auf ihre vor Verwunderung weit
aufgerissenen Augen nickt er bedächtig. „Die christliche Mystik lehrt es
bereits seit vielen hundert Jahren. Ihr Ziel ist die Einswerdung mit Gott, die
Offenbarung Gottes. Der heilige Augustinus ist einer ihrer Wegbereiter gewesen.
Wie kein anderer hat er die Lehren der Kirche beeinflusst. In meinen Predigten
greife ich oft auf diese zurück. Doch folgendes fand ich nach jenem Tage, als
mich der Knabe berührte, besonders zutreffend: Augustinus behauptet, dem
menschlichen Geist wäre die Erkenntnis ewiger Wahrheiten durch das unveränderliche
Licht des göttlichen Geistes möglich, welches ihn erleuchtet. Er glaubte,
dieses Licht stelle das Innerste des Menschen selbst dar. Für ihn ist die
Wendung des Menschen zu diesem Innersten hin Selbstvollzug des Geistes, was
seine Rückkehr zu seinem eigentlichen Ursprung bedeutet.“ Als sie statt einer
Erwiderung gedankenverloren vor sich hin starrt, kratzt sich Vater Isidor
versonnen am Kinn. „Wie du siehst, war er ein großer Philosoph“, raunt er noch,
bevor sich seine Miene plötzlich im Zuge eines erneuten Geistesblitzes erhellt
und er bedeutungsvoll seinen Zeigefinger hebt. „Du kennst doch sicher die
Lehren des Philosophen aller Philosophen. Aristoteles sogenannte Quintessenz,
die als fünftes Elenment die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde durchdringt.
Diese lichtartige Kraft, welche allem erst Leben einhaucht.“
    Joan nickt. Diese Lehren über
den Äther sind ihr bekannt. Wie wohl jedem halbwegs gebildeten Menschen. Sie
scheinen die Lehren der Kirchenväter nur zu bestätigen. Sie blickt auf. „Es bedeutet,
dass es eine göttliche, eine gute Kraft ist, der man sich zuwenden soll, um
Gott zu finden.“
    „Ja. Zumindest jene, denen von
Gott vergönnt ist, dieses Licht zu schauen.“
    „Könnt IHR es noch schauen?“
    „Nein. Doch offenbar du. Ebenso
wie der Knabe, der es mir zeigte. Er behauptete gar, noch nie auf eine andere
Weise gesehen zu haben.“
    „Er sah das Licht ohne
Unterlass“, fragt Joan ungläubig, worauf der Priester die Schultern zuckt.
    „Wenn man dem Glauben schenkt
...“
    Joan atmet gefasst durch. Das
Gehörte sollte sie darin bestärken, mit dem zweiten Blick zu sehen. „Wo kann
ich ihn finden?“
    „Wen? Den Knaben? Nun, er hatte
nicht die beste Gesundheit. Er starb vor einigen Jahren.“
    Sie schluckt. Vielleicht ist
diese Gabe doch weniger von Gott gewollt, als die Kirchenmänner glauben.
Vermutlich ist es das Beste, sich der Worte des Dorfheilers Rian anzunehmen,
der wissen sollte, wovon er redet.
    „Meine Tochter, ich bin
gespannt, was du aus dieser Fähigkeit machst. Leider kann ich dir dabei keine
hilfreiche Stütze sein. Doch kenne ich ein Kloster, in dem visionär

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