Die rote Farbe des Schnees
zeugt
sein gleichmäßiger Atem von seinem tiefen Schlaf. Joan dreht sich zaghaft zur
Seite, um ihn nicht zu wecken und betrachtet traurig über Robert neben ihr
hinweg das schlafende Kind in seiner Wiege. Sie wird die Augen die halbe Nacht
lang nicht von ihm abwenden, bevor schließlich die Kerze heruntergebrannt ist
und auch sie vom Schlaf sanft geschlossen werden.
Unaufhaltsam
rückt der nächste Tag heran.
Joan ist mit Ulman und dem
Kleinen schließlich allein in ihrem Gemach. Sie steht verzagt neben ihm, gibt
ihm unfähig jeglichen Gefühls sein Kind in die Arme. Es blickt ihn mit ernstem
Gesichtchen an.
„Welchen Namen trägt er“, fragt
er ehrfurchtsvoll.
„Leander.“
Er sieht überrascht auf. Ein
Lächeln gleitet über sein Gesicht, wobei er sich wieder dem Säugling auf seinem
Arm zuwendet. Plötzlich verklärt sich sein Blick auf eine ihr mittlerweile
vertraute Weise und ihr stockt erschreckt der Atem.
Seine Augen weiten sich
erstaunt. „Er ist wie seine Mutter“, haucht er ehrerbietig.
Joan starrt ihn ungläubig an.
Sie weiß, dass Ulman nicht von Leanders fleischlichem Körper spricht. Ganz
offensichtlich verfügt auch er über die Gabe des zweiten Blickes. Zerstreut
wendet sie sich Leander zu, um es Ulman dann gleich zu tun. Als sie das Kind
mit dem zweiten Blick betrachtet, jappst sie verblüfft auf. Verwundert schlägt
sie eine Hand vor den Mund. Das Licht, welches den Kleinen umgibt, ist vom
reinsten Weiß.
„Was hat das zu bedeuten“,
haucht sie.
„Dass er unglaubliche
Fähigkeiten besitzt. Er sieht die Welt mit anderen Augen, als die meisten
Menschen. Ich werde gut auf ihn Acht geben müssen.“
Sie schüttelt den Kopf. „Er
braucht jemanden, der es ihm erklären, seine Fähigkeiten formen kann. Nun weiß
ich auch, warum ihn Rian unbedingt als Schüler haben will.“
Ulman blickt erstaunt auf. Dann
räuspert er sich. „Alles zu seiner Zeit.“ Er küsst seinem Sohn die Stirn und
gibt ihn Joan zurück. „Ich will nichts überstürzen. Er soll sich langsam an
mich gewöhnen. ... Und langsam von dir Abstand gewinnen.“
Sie nickt. So wird sie sich
allmählich von ihm trennen. Wenn überhaupt, dann nur auf diese Weise, wie ihr
ein Gefühl sagt.
„Der Tag, an dem wir aus London
zurückkehren, wird euer Abschiedstag sein“, bereitet er sie vor.
Sie nickt mit Tränen in den
Augen, weshalb sie Ulman absichtlich nicht ansieht. Offenbar war ihr vom
Schicksal nur die Rolle der Retterin Leanders zugedacht, nicht die seiner
Mutter. Sie lenkt ihre schmerzlichen Gedanken auf Fiona ab. „Hast du sie
geliebt?“
Ulman atmet hörbar aus. „Ja.
Auf eine besondere Art“, raunt er. „Sie brachte Farbe in meine triste Welt.“
Joan kommt nicht umhin, über
dieses zutreffende Sinnbild zu lächeln. Sie gelangt zu der Erkenntnis, dass
Fiona mehr in Ulman gesehen haben muß, als alle anderen. „Sie hat deine Welt
verändert“, stellt sie fest, wobei sie ihm versonnen in die strahlend blauen
Augen sieht.
„Ja. Sie zeigte mir, wie
herrlich sie sein kann, wenn man es zulässt. Sie war der erste Mensch, welcher
bedingungslos und ohne Vorbehalte zu mir hielt.“ Er schnieft verächtlich. „Ihre
Selbstlosigkeit brachte ihr zum Dank den Tod.“
Sie schweigen einen
nachdenklichen Moment lang.
„Sie hat dich eben geliebt“,
murmelt sie.
Er nickt. „Stärker, als es je
ein Mensch vermochte. ... Es hat mich immer wieder aufs Neue erstaunt.“
Joan stutzt. „Es klingt, als
hättest du nie wirklich geliebt.“
Er sieht überrascht auf. Ein
etwas gequältes Lächeln ergreift von seinem Gesicht Besitz. Seine schönen Augen
blicken traurig. Etwas, das sie nicht zum ersten Male bei ihm bemerkt und das
wohl zu seinem Wesen gehört, die Momente, in denen er musiziert einmal
ausgenommen. „Nein, im Gegenteil. Ich ...“, er unterbricht sich seufzend mit
einer wegwerfenden Geste, die von einem unglücklichen Auflachen gefolgt wird.
„Vermutlich ist mir der Gesang zu Kopfe gestiegen. Denn gemäß der Minne verehre
ich stets nur die unerreichbare Frau“, gesteht er zu ihrer Verwunderung. In
seiner Stimme schwingt Verbitterung. Offenbar wurde ihm von der Frau seines
Herzens nicht die Liebe zuteil, die er ihr selbst entgegenbrachte.
Leander auf ihrem Arm quengelt,
was sie davon abhält, weiter über seine eigentümliche Antwort nachzusinnen. Sie
setzt sich aufs Bett und legt den Kleinen behände an. „Sag, machen dir diese
Farben keine Angst“, fragt sie und sieht erwartungsvoll zu ihm auf.
Er
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