Die rote Halle
hätte, durchaus ein Mordmotiv, oder?«
Warschauer ging schweigend neben Helge her, die Schultern
hochgezogen, den Blick in sich gekehrt.
»Aber wenn das so wäre«, sagte er schlieÃlich, »dann hätte Joe doch
das Tagebuch an sich genommen. Wer wäre so dumm, einen Zeugen zu töten und dann
das wichtigste Zeugnis liegen zu lassen? Es sieht für mich eher so aus, als
habe Sebastian mit dem Tagebucheintrag und dem Selbstmord zwei Fliegen mit
einer Klappe schlagen wollen.«
Nun war es Helge, der schwieg. Warschauer fand mit beeindruckender
Sicherheit die Schwachstellen in seiner Argumentation. Er zögerte, den nächsten
nahe liegenden Gedanken zu äuÃern. Aber er brauchte seine Reaktion.
»Und was ist mit Ihnen selbst? War es vielleicht für Sie eine gute
Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? Sie räumen einen
jungen, aufstrebenden Konkurrenten aus dem Weg und bringen im gleichen Zug Rost
unter Ihre Kontrolle?«
Warschauer strich sich das nasse Haar aus der Stirn, und Helge fiel
auf, wie attraktiv er war. Jungenhaft und erwachsen zugleich, mit diesen groÃen
Augen und dem Lächeln. Janina Zöllner musste sich glücklich schätzen; ein
Gedanke, der Helge missmutig stimmte.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?«, sagte Warschauer.
Nein, das war nicht sein Ernst. Es klang zwar plausibel, aber Helge
glaubte nicht daran.
»Ich denke nicht. Aber ich meine trotzdem, dass wir diesen Fall
nicht auf sich beruhen lassen können. Er wird im Zuge der
Kinderstrichgeschichte zwangsläufig wieder aufgerollt werden.«
»Ich weiÃ. Gehen wir zurück? Ich hätte gerne trockene Sachen.«
»Nur eine Sache noch, Herr Warschauer.«
»Bitte.«
»Glauben Sie daran, dass Simon zurück nach Kanada geflogen ist?«
Warschauer blieb stehen. Plötzlich erschien der Verkehrslärm des
Columbiadamms im immer stärker werdenden Regen unwahrscheinlich laut.
»Sie etwa nicht?«
»Ich weià es nicht. Ich habe Sie gefragt«, sagte Helge.
Simon klapperte vor Kälte mit den Zähnen, obwohl das mit
Vogeldreck bekleckerte Thermometer an der Wand 42° Celsius anzeigte. Die Luft
war feucht, Simon roch seinen eigenen Gestank, und irgendwo im Nebel seines
Bewusstseins wusste er zwei Dinge: Er hatte Geburtstag. Und er hatte hohes
Fieber.
Bilder trieben durch seinen Kopf, ein verdrehter Kopf, die
aufgerissenen Augen. Der rote Striemen, wo am Hals die Haut gerissen war. Dann
DeeDee, die Roses Schuhe trug und sich mit ebenso groÃen, ebenso starren Augen
über ihn beugte, auf ihm saÃ, sich bewegte. Maul halten ,
flüsterte sie ihm mit Rosts Stimme ins Ohr. Wir gehören
zusammen, flüsterte sie. Für immer.
Ihr Gesicht riss auf, und etwas HeiÃes lief ihm am Ohr und am Hals
hinab, brannte sich langsam einen Weg durch seine Haut, bis er endlich
aufwachte.
Er war allein. Er wollte aufstehen, den Eimer benutzen, aber das
ging nur, wenn sie da war und die Plastikwäscheleine löste, mit der sie ihm Hände
und FüÃe gefesselt hatte. Und sie kam immer seltener. Er konnte die Schmerzen
in seiner Blase nicht mehr ertragen, er ergab sich, pinkelte einfach in die
Hose. Und fiel erleichtert zurück in seinen Dämmerzustand.
Als er das nächste Mal die Augen öffnete, lief weiches Licht durch
seinen Tränenschleier zu goldenen Pfützen zusammen. Auf dem Boden vor ihm stand
eine groÃe, schwarze Torte. Die Wäscheleine schnitt ihm in die Handgelenke,
doch das spürte er kaum, weil er seit Stunden auf seinen Armen lag. Nur seine
FüÃe schmerzten, die Knöchel waren geschwollen.
»Komm, Spätzchen, mach mal das Schnäbelchen auf«, sagte DeeDee mit
süÃer Stimme. Ihre Finger gruben tief in die Schokoladenglasur, der Brocken,
den sie herausbrach, glänzte feucht im Kerzenlicht.
»Der ist gut geworden, richtig saftig.«
Sie schob Simon ein groÃes Stück Kuchen zwischen die aufgesprungenen
Lippen, und er versuchte zu schlucken, doch seine Kehle war zu trocken. Er
würgte.
»Na!« DeeDee schnalzte verärgert mit der Zunge. »Sag bloÃ, der
schmeckt nicht.«
»Ich ⦠Wasser.«
DeeDee lachte.
»Wasser?! Es ist dein Geburtstag! Ich habe Sekt für uns zwei.«
Die Kerzenflammen spiegelten sich rot in ihren Augen, als sie
zwinkerte. »Und für später hab ich auch noch was Härteres.«
Sie beugte sich nach hinten, zog ihre
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