Die rote Halle
hielt
ihn Simon vors Gesicht.
Roter Plastikgriff, schwarzer Schieber, um die Klinge rein- und
rauszufahren und festzustellen. Ein Cutter, wie man ihn in jedem
Schreibwarenladen kaufen konnte.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Ach, Junge. Das ist so schade um uns«, sagte sie. »Das ist so
verdammt schade.« Dann lächelte sie ihr schiefes Lächeln, und auch das sah
beinahe traurig aus. »WeiÃt du eigentlich, woher ich diese Narbe habe?« Sie
deutete auf ihre Wange. »Komm schon, ich habe es dir doch erzählt.«
»Der Autounfall«, brachte Simon heiser hervor.
»Genau. Ganz genau. Ich weià nicht, vielleicht war es die
Karosserie, die mir das Gesicht zerschnitten hat. Vielleicht auch die
Seitenscheibe. Gebrauchtwagen, kein Sicherheitsglas. Vielleicht war es auch
eine Scherbe von einer Sektflasche, die ich im Auto hatte. Siehst du, so!«
DeeDee nahm die Moët-Flasche und zerschlug sie an der Bretterwand
neben Simon. Champagner und Scherben spritzten ihm über Kopf und Brust, und er
kniff reflexartig die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war DeeDees
Gesicht ganz dicht vor seinem.
»So eine Wange ist dicker, als man denkt.«
Sie hielt den abgebrochenen Flaschenhals in der Hand, drehte ihn im
Kerzenlicht. Strich mit der gezackten Kante sanft über seine Wange.
Simon wimmerte.
»Du hast recht. Das ist zu hart.« Sie lächelte und warf den
Flaschenhals zur Seite. »Ich denke, ich mache es dir ein wenig leichter zu
verstehen, wie ich es empfunden habe.«
Mit einer schnellen Bewegung stieà sie ihn um, und als er sich mit
den Beinen abstieÃ, um mehr Raum zwischen sich und DeeDee zu bringen, setzte
sie sich auf seine Brust und klemmte sich seinen Kopf zwischen die Knie.
»Ganz ruhig. Wir wollen doch nicht, dass etwas ins Auge geht, oder?«
Dann fuhr sie die Klinge des Cutters heraus und arretierte sie.
Simon wollte schreien, aber er konnte nicht, weil er zu wenig Luft
bekam.
Der erste Schnitt ritzte die obere Hautschicht. Der zweite Schnitt
ging tiefer. Und dann begann es erst richtig.
Die Decke über seinem Kopf war weiÃ, und die Decke, die
auf seinem Körper lag, war auch weiÃ. Die Wände waren weiÃ. Er konnte WeiÃ
nicht ausstehen, es gab keine Anhaltspunkte für Grenzen und Konturen, alles
verschwamm zu einer einzigen Fläche, und er war sich oft nicht sicher, ob er
lag oder stand oder flog.
Er hatte wirklich geglaubt, dass er es unter Kontrolle hatte. Dass
er es schaffen würde. Das Rot der Halle hatte ihm geholfen, sich am Leben
festzuhalten, es war warm gewesen, laut, stark. Aber das hier, das viele WeiÃ,
das war kalt und tot. Rost fror, bibberte am ganzen Körper, aber sie gaben ihm
keine zweite Decke.
Durch die Braunülen, die sie in seine Hände geschoben hatten,
tröpfelten Medikamente in seine Venen. Er würde sie nicht mehr lange ertragen,
diese nervtötende, reizende Berührung im Innern seines Körpers. Alles, worauf
er sich konzentrieren und womit er sich ablenken konnte, war sein Atem. Ein und
aus, und das würde weitergehen, solange er lebte. Ein und aus, kein Entkommen,
ein unendliches Gewebe aus Langeweile und Nutzlosigkeit. Und sie hatten seine
Tabletten weggenommen und sie durch ordentliche Dosierungen per Infusion
ersetzt. Er konnte sich nicht einmal mehr ausknipsen, wenn alles zu viel wurde.
Als in diesem ewigen Einerlei aus Kette und Schuss, hin und her, ein
und aus die Tür aufgerissen wurde, genoss Rost den Schrecken beinahe. Herein
kam noch mehr WeiÃ, eine dicke Schwester, weiÃer Kittel, weiÃes Haar.
»Ahhh«, sagte Rost.
»Moment«, sagte sie und eilte weiter, riss die zweite Tür auf,
direkt am FuÃende von Rosts Bett. Der erste Blick, den er in den Raum hinter
dieser Tür werfen konnte, seit er hier und bei Bewusstsein war. Wie lange war
das? Zwei Stunden? Zwei Jahre? Er hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Rost richtete sich auf. Hinter der Tür war es grün. Grüne Kacheln,
grüne Vorhänge. Und in der Mitte eine riesige grüne Wanne mit einem Sitzgestell
und Gurten und Griffen. Die Schwester drehte das Wasser auf, bevor sie einen Vorhang
zuzog und die Wanne aus Rosts Blick verschwand. Er schloss die Augen und
schluckte.
Eine Wanne also. Darum ging es hier also. Das war es also. Na gut.
»Schwester!«, rief er mit seiner alten, lauten Choreographenstimme.
Einmal würden sie noch auf ihn hören
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