Die rote Halle
ja.«
In aller Ruhe schraubte sie einen Deostick auf, der auf dem
Mattenstapel neben ihr stand, und strich sich die Achseln damit ein. Sie waren
nicht rasiert, und er starrte das Schwarz an, wie ein Idiot, mit offenem Mund.
»Ahm, du wolltest mir was sagen?«
Sie steckte das Deo weg, und Simon nahm an, dass sie sich nun
endlich etwas überziehen würde. Aber sie setzte sich einfach neben ihren
Stoffbeutel auf die Matten und schlug die Beine übereinander.
»Tut mir leid, dass ich dich deswegen rausgeklingelt habe. Ich bin
mir nicht mehr so sicher. Manchmal denke ich, Unwissen ist im Grunde das einzig
Gute, was wir haben.« Sie sah ihn an und streifte wie beiläufig ihre steife
Brustwarze, als sie die Hand hob, um sich das verschwitzte Haar aus der Stirn
zu streichen.
»Nicht zu wissen, was wir anderen angetan haben, nicht zu wissen,
was wir ihnen antun werden. Das ist etwas, was nur Kinder erleben.«
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an, und Simon fühlte sich wie ein
Roboter, sein Penis pochte und tat weh.
DeeDee griff nach einem schwarzen T-Shirt und zog es sich über.
»Und ich bin mir nicht sicher, ob ich berechtigt bin, daran etwas zu
ändern.«
Ohne zu wissen, warum, war Simon erleichtert.
»Okay. Dann geh ich am besten wieder ins Bett.«
»Warte mal.« DeeDee schien mit sich zu ringen. »Was ich dich fragen
wollte, Simon. WeiÃt du eigentlich, wer dein Vater ist?«
»Nein.«
»Und willst du es wissen?«
»Ich erfahre es, wenn ich achtzehn bin. Das ist der Deal mit meiner
Mutter.«
»Reicht dir das?«
Früher, als Josef weggegangen war, hatte er es unbedingt wissen
wollen, er hatte nachts nicht schlafen können, weil er sich immerzu alle
möglichen Männer, die seine Mutter kannte, als Vater vorzustellen versuchte.
Aber es war keiner dabei gewesen, den er gewollt hätte. Und seine Mutter hatte,
soweit er wusste, auch nie einen Freund gehabt. Aber jetzt hatte er schon lange
nicht mehr darüber nachgedacht. Simon zuckte die Achseln.
»Weià nicht.«
»Mir ist schon klar, dass deine Mutter dich nur schützen will. Aber
⦠ich habe dich ein bisschen beobachtet. Du bist beinahe erwachsen. Ich finde,
du könntest selbst entscheiden, wie viel Wahrheit du verträgst.«
Simons Brust fühlte sich plötzlich eng an. »Und du weiÃt, wer mein
Vater ist?« Er wollte es wissen. Und er wollte es nicht wissen.
DeeDee sah ihn an, als ob er ihr leid täte, als wäre er so etwas wie
ein Waisenkind, und aus irgendeinem Grund schämte Simon sich deswegen.
»Ich weiÃ, wer dein Vater ist.«
»Und du würdest es mir sagen?«
DeeDee senkte den Blick.
»Ich hatte es vor. Aber jetzt denke ich ⦠nein, nicht einfach so.
Deine Mutter hat ihre Gründe. Aber wenn du Unterstützung von mir möchtest, oder
jemanden zum Reden brauchst â¦Â« DeeDee schien nach Worten zu suchen, und als sie
fortfuhr, klang es beinahe traurig. »Es gibt nämlich Momente im Leben, die kann
man nie wieder rückgängig machen. Etwas verändert sich für immer, und man
verliert dabei unendlich viel. Man verliert seine Unschuld.«
Dann sah sie Simon wieder an, lachte. »Ach, vergiss es einfach. Ich
bin nur eine blöde alte Frau.«
Die ganze Situation war merkwürdig, und Simon wünschte fast, er wäre
nicht ans Telefon gegangen. Aber irgendwie wollte er jetzt auch nicht gehen.
Was meinte DeeDee damit, wem oder warum sollte es wehtun, wenn er den Namen
seines Vaters kannte?
»Soll ich dir den Flughafen zeigen?«, fragte er unvermittelt. »Ich
habe alle Schlüssel.«
»Du hast was?«
»Ich hab sie geklaut.«
Simon hielt den Atem an. Warum hatte er das gesagt? Was sollte das
sein, ein Vertrauensvorschuss?
DeeDee lachte, dass es von den Wänden der Sporthalle widerhallte.
»Und ich halte ihm Vorträge über Unschuld!«
Plötzlich war das mulmige Gefühl wie weggeblasen, und Simon lachte
befreit mit.
»Los, zeig mir die ganzen verbotenen Zonen!«, sagte DeeDee, nahm
ihren Beutel und ging trotz ihres Beins zügig und mit weit ausholendem Gehstock
voran. Simon musste fast laufen, um Schritt zu halten.
»Wohin gehen wir zuerst?«, fragte sie, während sie die Treppen
hinabschlichen wie Kinder, die zu einem verbotenen nächtlichen Ausflug
aufbrechen.
»Das Gepäckleitsystem«, sagte Simon. »Das wollte ich mir neulich
schon
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