Die rote Halle
Täterin.«
Simon nickte. So war das also. Natürlich.
Er wünschte sich, das alles wäre nicht passiert und er könnte jetzt
bei seiner Mutter in der Kostümabteilung sitzen und ihr beim Bügeln zusehen,
während er einen groÃen Becher heiÃen Kaffee mit Kaba schlürfte. Er wünschte,
er könnte einfach wieder Kind sein.
DeeDee legte ihm einen Arm um die Schultern.
»Lass uns jetzt gehen. Okay? Einfach erst mal drüber schlafen.«
Simon nickte und folgte ihr.
Plötzlich blieb DeeDee stehen. »Verdammt!«
»Was?«
»In der Aufregung habe ich ganz vergessen, dir zu sagen, warum ich
vorhin eigentlich angerufen habe.«
Simon wartete.
»Deine Mutter ist im Krankenhaus.«
In Simon zog sich ein Angstknoten fest zusammen.
»Und das sagst du mir erst jetzt?!«
»Schhh, immer mit der Ruhe. Es ist nichts mit ihr. Aber Rost ist
zusammengebrochen, und sie ist mit ihm gefahren. Morgen ist sie wieder da. Das
sollte ich dir sagen.«
DeeDee stand vor Simon, die roten Schuhe noch immer in den Händen,
und lächelte. Wortlos lieà er sie stehen und rannte aus der Halle.
TAG 5 â SCHNITT
Die Kostüme mussten vorbereitet, eine neue Schweinehaut
perforiert werden, sie musste die Disposition ausdrucken und unten an der
Kantine anschlagen lassen. Und sie würde aufpassen müssen, dass Josef sich
nicht übernahm. Was die schwierigste Aufgabe sein würde.
Vielleicht wäre es am besten, er klappte gleich noch einmal
zusammen. Und zwar so, dass er liegen bleiben musste. Janina biss sich bei
diesem Gedanken auf die Lippen. Stopp! Sie dachte nur an sich selbst, dachte daran,
dass es für sie dann einfacher sein würde. Nein, es ging bei diesem Gedanken
nicht um sie. Sie wollte bleiben. Sie wollte in Berlin sein. Sie wollte ⦠in
Daves Nähe sein? Darum ging es nicht. Es ging um Rosts Leben. Und es ging um
Simon, den sie hier bereits in den ersten Tagen vollkommen aus den Augen
verloren hatte.
»Ach, verdammt!«
Janina drehte das Bügeleisen aus und stellte es auf die
Metallablage. Sie war einfach davon ausgegangen, dass DeeDee sich kümmerte und
dass Simon noch schlief. Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz nach sieben, die
erste Probe begann um neun, und Simon hatte damit nicht einmal etwas zu tun.
Nein, sie hatte ihn nicht vergessen. Sie hatte ihn bloà in Ruhe gelassen.
Trotzdem. Es war das Mindeste, einfach mal kurz nach ihm zu sehen. Es konnte ja
nicht angehen, dass sie ihn hierherschleifte und ihn dann einfach sich selbst
überlieÃ. Janina rieb sich die brennenden Augen, fuhr sich durchs fettige Haar.
Sie würde heià und kalt duschen, und danach würde sie nach Simon sehen. Bevor
sie ging, schrieb sie eine SMS: Um 8Â Uhr in der Kantine?
Rost würde heute früh ausnahmsweise ohne Frischgebügeltes auskommen
müssen.
Um zehn vor acht war Janina in der Kantine, legte ein Tablett
auf die Metallschienen, schob es an Brötchen, Marmeladen, Aufschnitt, Müsli,
Tee, Kaffee und Saft vorbei.
Sie nahm sich einen groÃen Kaffee und eine Banane. Mehr würde
ohnehin nicht reingehen, ihr Magen hatte geschlossen, seit sie in Berlin
angekommen waren. Besser gesagt, seit sie Dave, aber Dave sie nicht erkannt
hatte. Seitdem wechselte Janina ständig zwischen latenter Ãbelkeit und
bohrenden Hungergefühlen. Es war im Grunde genau wie damals, sie kannte diesen
Zustand, der daher kam, dass sie ihm jederzeit über den Weg laufen konnte, und
es verging keine Minute am Tag, in der sie nicht mit einem Teil ihrer
Aufmerksamkeit auf ihn lauerte. Sie wollte ihn sehen. Aber sie wusste nicht, ob
sie von ihm gesehen werden wollte. Vor allem war sie sich schmerzlich bewusst,
wie alt und muttihaft sie geworden war. Natürlich erkannte er sie nicht.
Während Janina mit ihrem Tablett durch den geschwungenen, mit
finsterer Eiche getäfelten Speisesaal ging und auf einen Fensterplatz
zusteuerte, war sie plötzlich froh darüber. Sie wollte gar nicht, dass er sie
in diesem Zustand wiedererkannte. Dass er es nicht tat, war ihre Chance, ohne
noch tiefere Schamgefühle aus dieser Sache rauszukommen. Wenn er nicht wusste,
wer sie war, wusste er auch nicht, wie sehr sie versagt hatte, konnte er sie nicht
verachten, konnte er sich nicht vor ihr ekeln, so wie sie sich vor sich selbst
ekelte. Ja, sie hatte Simon groÃgezogen. Ohne Dave. Aber rechtfertigte das, was
aus ihr geworden war?
Janina setzte sich und
Weitere Kostenlose Bücher