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Die rote Halle

Die rote Halle

Titel: Die rote Halle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karla Schmidt
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derselbe.«
    Zum ersten Mal kam Janina der Gedanke, dass Josef Rost Dave
vielleicht ebenso viel bedeutete wie ihr, dass er als Mentor und Freund für ihn
ebenso wichtig war. Dass er sich ebenso Sorgen machte und trauerte. Sie wusste
nicht, dass sie es ihm sagen würde, bevor sie es tat. Aber es fühlte sich
richtig an.
    Â»Dave, er hat nicht mehr lange zu leben. Er hat es mir gesagt, als
wir im Krankenhaus waren. Er weiß es.«
    Dave ging zum Fenster hinüber, stützte die Hände auf die
Fensterbank, blickte hinaus auf den trägen Verkehr.
    Es war ein stiller Moment, aber ihr gemeinsames Schweigen tat nicht
weh. Es verband Dave und sie auf eine unerklärliche Weise, die in Janina erneut
Tränen aufsteigen ließ. Schon wieder Tränen.
    Trauer, Zärtlichkeit, Reue, Erleichterung, alles vermischte sich zu
einem aufwühlenden Strudel, und sie wollte sich mitten hineinstürzen.
Vielleicht war dies der Moment, den man die Stunde der Wahrheit nannte. Vielleicht
war es ein Fehler gewesen, Dave nichts von Simon zu sagen. Simon hätte einen
richtigen Vater gebraucht. Vielleicht war es nicht zu spät.
    Â»Dave …«
    Â»Janina, du hast echt was verpasst! Rost ist so was von besoffen!
Die Probe wird auf jeden Fall lustig.«
    Janina zuckte zusammen. DeeDees Fröhlichkeit zerstörte den Moment
ebenso sicher wie ein Stein, der durch eine Glasscheibe fliegt. Die Scherben
regnen lachend zu Boden, und die Stille danach ist nicht tief und erholsam,
sondern peinlich, und sie kann nur durchbrochen werden, indem man den nächsten
Stein hinterherwirft.
    DeeDee kicherte aufgekratzt.
    Â»Wir haben ihn auf die Bühne gelegt. Er schnarcht wie ein Schwein.«
    Dann zog sie sich aus. Janina konnte nicht wegschauen, und sie
wollte auch zum ersten Mal nicht wegschauen. Die Stunde der Wahrheit, es gab
etwas zu lernen.
    Sie betrachtete DeeDees Körper und sah, dass alles einfach ganz
genau so war, wie es war, und dass es nichts gab, was irgendeiner auf Dauer
verstecken konnte. DeeDee nicht. Sie auch nicht. Es ergab keinen Sinn, weil man
auf diese Weise nichts weiter erreichte, als sein Leben zu vertun. DeeDee
machte ihr vor, wie man sich zeigte, und was sie sah, war hässlich. Es war
nicht nur das Bein, dem Fleisch und Substanz fehlte. Die ganze linke Seite war
betroffen, die Hüfte, die Rippen, überall zogen sich lange, schrundige Narben
entlang, alles wirkte schief und irgendwie falsch.
    Aber es war Janina vollkommen egal. Überrascht stellte sie fest, dass
es nicht von Belang war, wer schön oder hässlich war. Es war nicht von Belang,
wer wie viel oder wie wenig von ihr wusste. Sie konnte es Dave sagen, jetzt. Völlig
egal, ob DeeDee dabei war und was sie tat oder unterließ. Es hatte nichts mit
ihr zu tun. Nicht das Geringste.
    Â»Wir sollten die Probe streichen«, sagte Dave heiser. »Wir sollten
die ganze Inszenierung streichen.«
    Und dann ging er hinaus, nein, lief hinaus, bevor Janina die Chance
hatte, es ihm zu sagen.
    Â»Was redet der denn da?!«, sagte DeeDee kopfschüttelnd. »Natürlich
proben wir. Wir müssen schließlich fertig werden.«
    Sie hob die Arme über den Kopf, um sich von Janina in ihr Mieder
helfen zu lassen, und Janina fügte sich in die Situation. Vielleicht würde sich
doch noch etwas daraus ergeben.
    Â»Ich habe eine SMS von Simon bekommen«, sagte sie.
    Â»Echt? Was schreibt er denn?«
    DeeDee klang dumpf durch den Stoff, der sich nur mühsam über ihren
Kopf schieben ließ.
    Â»Dass Rost ein Kinderficker ist.«
    DeeDee zuckte mit immer noch erhobenen Armen die Achseln. Endlich
rutschte der Stoff, und Janina begann, die Bänder im Rücken zu schließen.
DeeDee sah Janina über die Schulter an.
    Â»Und? Glaubst du das?«
    Â»Ich glaube gar nichts«, sagte sie langsam. »Aber eines weiß ich mit
Sicherheit: Du wirst mich zu Simon bringen. Heute noch. Wenn du dich weigerst,
werde ich direkt nach der Probe über den Platz gehen und zur Tür der nächsten
Polizeiwache hinein. Bis dahin hast du Zeit, es dir zu überlegen.«
    Sie schloss das letzte Band und ließ DeeDee allein in der Kostümabteilung
stehen. Das hatte sie also schon mal geklärt. Jetzt waren Dave und Rost an der
Reihe.
    Â»Was soll das heißen, Dave kommt nicht?«
    Rosts Gesichtsfeld war eingeschränkt. Um einen kleinen Kreis aus
klarer Sicht herum zog sich ein Nebel zusammen, er hatte das

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