Die Rote Spur Des Zorns
Küster vor und nach jeder Messe aufräumen musste. Sie konnte es nicht auf ihn abwälzen, Landry & Co. die Kirche aufzuschließen. Sie müsste selbst da sein. Mit Peggy reden. Mehr über Bill Ingraham herausfinden.
»Natürlich, Ms. Landry. Gern. Ich treffe mich mit Ihnen vor der Kirche und lasse Sie alle rein. Um wie viel Uhr würde es Ihnen denn passen?«
Sie einigten sich auf zehn. Clare beschloss, die zwei Stunden bis dahin nicht zum Joggen zu benutzen – der Wettlauf von gestern steckte ihr noch in den Knochen –, sondern zog sich schnell an und führte zwischendurch ein Telefonat mit Robert Corlews Büro. Corlew war Pfarrgemeinderatsmitglied und obendrein ein wohlhabender örtlicher Unternehmer, der sich hauptsächlich in kleinen Eigenheimsiedlungen mit Namen wie »Olde Mill Town Homes« betätigte, gelegentlich aber auch ein Einkaufszentrum baute. Clare vermutete, dass er als Berufskollege von Ingraham vielleicht Näheres über ihn und den Landry-Besitz wüsste. Aber Corlew war noch nicht in seinem Büro; also hinterließ sie ihm eine Nachricht.
Während sie Eier briet und Kaffee kochte, überdachte sie ihr plötzliches Interesse an Ingrahams Hintergrund. Wenn sie sich gestern Abend, bei ihrer Standpauke gegen Russ, geirrt hatte, dann war der Mord mehr oder weniger zufällig geschehen; der Mann hatte sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten. In diesem Fall investierte sie ihre Energie besser gleich in Russ’ Vorschlag: eine Schwulen-und Lesbendemo. Aber als Peggy Landry am Telefon ihren Namen nannte, hatte Clare sofort den Drang verspürt, sich näher mit Ingraham zu befassen. Russ’ Worte von gestern Abend fielen ihr wieder ein: »Ihre Version der Wahrheit«? Es gibt ein »Ich hab Recht«, es gibt ein »Du hast Recht«, und es gibt das eine Wahre und Richtige, hatte Oma Fergusson immer gesagt. Also, was darf’s sein? Wenn sie Russ je wieder ins Gesicht blicken wollte, gab es nur einen Ausweg: alle Rechthaberei aufzugeben und zu suchen, was wahr und richtig war.
Das große gotische Portal von St. Alban’s, das in der Sonne glänzte und von einem sommerlichen Blumenmeer umrahmt war, schien der schönere Hintergrund für eine Hochzeit als das kühle, schattige Innere der Kirche. Natürlich könnte die Floristin in diesem Fall nichts für die Dekoration verlangen, dachte Clare, während sie aufschloss. Sie kam gerade aus der Sakristei, wo die Lichtschalter waren, da hörte sie auf den Fliesen des Mittelschiffs das Geräusch von Sandalen.
»Hallo? Jemand da?«
»Hier drüben«, rief Clare.
Diana Berry ähnelte ihrer Tante: braungebrannt, kantig, trocken und sachorientiert, nur dass ihr helles Haar lang und luftig war, das von Peggy Landry hingegen kurz geschnitten und jede Strähne an ihrem Platz. Aber Clare konnte sich Diana vorstellen, wenn sie einmal so alt sein würde wie ihre Tante: entweder eine zähe Geschäftsfrau oder eine von diesen gnadenlos effizienten Hausfrauen und Müttern, die das Gemeindeleben managten. Oder beides. Ihre Kleidung glich der von Peggy und Clare: ärmellose Bluse und Freizeithose beziehungsweise Jeans. Die Frau, die sie begleitete, war offenkundig die Floristin, eine etwa vierzigjährige Asiatin, deren dichte Ponyfrisur ihr um den Unterkiefer schwang, während sie einen Blick in die Runde warf und dann auf den Altar zutrat.
»Wundervoller Ort«, schwärmte sie.
»Danke«, sagte Clare.
»Reverend Clare!«, rief Diana. »Wie schön, Sie wiederzusehen. Vielen Dank, dass Sie uns so kurzfristig aufschließen konnten. Das hier sind Lin-bai Tang, unsere Blumendekorateurin, und meine Tante, Peggy Landry.«
Clare gab allen die Hand.
»Was ist das?«, fragte Tang, während sie fasziniert die kunstvollen Schnitzereien betrachtete. »Mitte neunzehntes Jahrhundert?«
»Begonnen 1857, fertig gestellt direkt nach Ende des Bürgerkriegs.«
»Fantastisch. Ich liebe gotische Kirchen. Kommen Sie, Diana, fangen wir mit dem Altargitter an. Ich stelle mir da Zierleisten in mittelalterlichem Stil vor, mit Blumen, die aussehen, als hätte die Lady von Shallot sie am Bach gepflückt …« Sie zückte Notizblock und Maßband.
»Wow«, sagte Clare. »Sie ist wirklich gut. Ich weiß nicht, wie ihre Gebinde aussehen, aber sie ist gut.«
»Sie ist die Blumendekorateurin in Saratoga. Wir können von Glück sagen, dass wir sie in der Hochsaison überhaupt erwischt haben. Mein Schwager steckt ein Vermögen in die Sache. Dafür müssten Braut und Bräutigam ihm eigentlich eine
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