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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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liebe es, Menschen zu beraten, zu besuchen, ihnen zu helfen … Ah, da ist er ja.« Sie ließ von ihrem Schlüsselring ein altertümliches langes Exemplar herabbaumeln, das aussah, als hätte man es vor hundert Jahren gegossen. »Hauptportal. Nein, ich persönlich tue mir mit der sakramentalen Seite schwer.« Sie marschierte zielstrebig durch den Mittelgang, während Russ ihr folgte. »Ich wünschte, ich wäre mehr wie einige der Studenten und Studentinnen in dem Seminar. Man sah förmlich, wie durchdrungen sie vom Heiligen Geist waren. Er leuchtete ihnen aus den Augen. Daneben fühle ich mich wie ein ›tönend Erz oder eine klingende Schelle‹.«
    Auch was das bedeutete, wusste er nicht genau, aber er ahnte, dass es niemand war, dem der Geist aus den Augen leuchtete.
    Clare schwang einen der mächtigen Türflügel auf. »Machen Sie bitte das Licht aus, ja? Dort drüben rechts.« Die Luft war warm und duftete nach Blumen. Clare zog die Tür zu und schloss ab.
    »Freut mich, zu sehen, dass Sie etwas abschließen«, sagte Russ.
    Sie verstaute den Schlüssel und blickte zu ihm auf. Das Dämmerlicht war gerade hell genug, um ihren pikierten Gesichtsausdruck zu erkennen. »Diese Kirche«, erwiderte sie, »gehört ja auch nicht mir.«
    »Ich bringe Sie noch nach Hause, bevor ich gehe.«
    »Das Pfarrhaus ist das erste Haus in der Straße. Es liegt gerade mal fünfzig Meter den Gehsteig runter.«
    »Ich habe aber auch meinen Streifenwagen in Ihrer Einfahrt geparkt.«
    »Ach so. Na dann.«
    Sie gingen schweigend den Weg entlang. Russ öffnete die Tür seines Dienstfahrzeugs, und Clare blieb auf dem Rasen vor dem Haus stehen. »Gute Nacht also«, sagte Russ. »Danke, dass ich Ihr Büro benutzen durfte. Und es war richtig, dass Sie Lyle wegen McKinley Bescheid gaben.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Hoffentlich stellt sich nicht heraus, dass er diesen Pick-up seiner alten Mutter geliehen und die Nacht in der Armenküche gearbeitet hat.«
    »Da mache ich mir wenig Sorgen.« Statt sich in den Wagen zu setzen, lehnte er sich einen Moment an den Türrahmen.
    Clare betrachtete verlegen ihre Turnschuhe.
    »Und?« Sie blickte zu ihm auf. Eine Straßenlaterne an der Ecke umriss schwach die Konturen ihres Gesichts. »Ist mir jetzt verziehen?«
    »Wofür? Für Ihre freie Meinungsäußerung?«
    Er sah ein kurzes Grinsen. »Nein, ich könnte nicht behaupten, dass ich so etwas je bereut hätte. Aber die Art dieser Meinungsäußerung, die Verletzung Ihrer Gefühle.«
    Er wollte schon antworten, seine Gefühle spielten sowieso keine Rolle und man müsse einen Schlag wegstecken können; aber er merkte, dass er sich dann anhören würde wie ein Boxtrainer. »Ja«, sagte er. »Ja, ich verzeihe Ihnen.«
    Wieder blitzte ein Lächeln in der Dunkelheit. Sie drehte sich zur Veranda um. »Hey, Clare«, rief er. Sie machte noch einmal kehrt. »Von wegen dieser Heiliggeistsache …«
    »Ja?«
    »Ich finde, aus Ihnen leuchtet’s auch ein bisschen.«

17
    R uss saß in seinem Auto auf der Rückseite der Causeway Street 2, als Elliott McKinley endlich nach Hause kam. Der Streifenwagen war strategisch zwischen die Doppelgarage mit dem durchhängenden Dach und den Müllcontainer des Wohnheims gezwängt, den man lange nicht mehr geleert hatte. Russ versuchte die Scheiben hochzukurbeln, um den Gestank auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, aber sobald die Sonne aufging und es wärmer wurde, fühlte er sich wie ein Stück grau werdendes Fleisch in einem Dampfkochtopf. Zu guter Letzt stieß er die Tür auf und betete um ein frisches Lüftchen.
    Er war schon seit der Dienstablösung hier, um sechs Uhr früh. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Nachbarhäuser geleert, denn selbst wer Montag noch daheim bleiben konnte, musste heute wieder an die Arbeit. Russ hatte zugehört, wie die Chevy-Camaros, die zehn Jahre alten Skylarks und der winzige Importwagen ansprangen und davonbrausten – zur Frühschicht bei General Electric in Hudson Falls, zu dem großen Software-Verpackungsbetrieb in Fort Henry oder zu Baustellen und Autowerkstätten. Die Causeway Street lag in einem Schichtarbeiter-Viertel. Nachmittags um vier machten sich alle Barkeeper, Bedienungen und Türsteher auf den Weg zu den Lokalen oder den so genannten »Rodeo«-Kneipen, die die Straßen zum Lake George säumten, oder zu den ruhigen Nobelrestaurants, die schon seit Teddy Roosevelts Zeiten die reichen Sommerurlauber empfingen. Um zweiundzwanzig-oder dreiundzwanzig Uhr rückten dann auch die

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