Die roten Blüten der Sehnsucht
entgegenhinkte. Sicher hatte er sich wieder überanstrengt. Wie sie ihn kannte, hatte er beim Ausheben des Grabes keine Rücksicht auf seine immer noch nicht ausgeheilte Verletzung genommen. » Setz dich«, befahl sie und schob ihm den Schemel hin, um sein Bein hochzulegen. » Seid ihr fertig?«
Ian nickte. » John hat erst einmal ein Holzkreuz geschnitzt. Was meinst du: Würde Lady Chatwick lieber Granit oder Marmor haben wollen?«
» Keine Ahnung«, erwiderte sie ehrlich. » Wir haben nie über solche Dinge gesprochen.« Wie über so vieles andere.
» Dann werde ich den gleichen Stein bestellen wie für Robert«, entschied Ian. » Hoffentlich taucht ihre Bibel wieder auf. Sonst wissen wir gar nicht, was der Steinmetz einmeißeln soll.– Irgendetwas Wichtiges?« Er wies mit dem Kinn in Richtung des Postkorbs, den sie achtlos abgestellt hatte, als sie ihm den Schemel zurechtgerückt hatte.
» Ich glaube, es ist ein Brief von deinem Vater dabei«, sagte sie und fischte ihn aus dem Stapel. » Soll ich dich damit allein lassen?«
» Nein, bitte bleib.« Ian wirkte nervös. Seine Hände zitterten leicht, als er das Siegel brach und die raschelnden Bögen entfaltete. Dorothea beobachtete sein Gesicht, während er die Zeilen geradezu verschlang. Die Emotionen, die es widerspiegelte, waren unterschiedlichster Natur. Rührung, Befremden, Entsetzen, Wut. Wieso Entsetzen und Wut?
Es kostete Dorothea all ihre Selbstbeherrschung, um nicht nachzufragen. Dann begann Ian, die Blätter noch einmal zu lesen. Langsamer diesmal, während ein grimmiges Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Schließlich ließ er die Bögen sinken und schob sie ihr über den Tisch. Mehr brauchte Dorothea nicht als Aufforderung. Sie riss sie an sich.
» Mein lieber Sohn«, begann der Brief in einer gestochen klaren Handschrift.
» Du würdest nicht glauben, welches Glück mir alleine diese Anrede schon verschafft. In meinen Träumen habe ich Dich bereits so oft in die Arme geschlossen, dass ich es kaum erwarten kann, dies tatsächlich zu tun. Mein lieber Gregory, wenn ich Dich so nennen darf. Wenn du Ian vorziehst, werde ich mir Mühe geben, mich daran zu gewöhnen. Der Name ist Nebensache. Nur bist Du für mich immer Gregory gewesen, wenn ich mit Dir sprach, ohne zu wissen, wo Du bist – ob Du überhaupt noch unter den Lebenden weilst. Oder schon längst wieder mit Deiner Mutter vereint bist. Ihr beide habt mir unaussprechlich gefehlt.
Ich fühlte mich verkrüppelt wie eine griechische Statue ohne Glieder. Es ist lange her, dass ich so glücklich war wie an dem Tag, an dem mich die Nachricht des guten Billingsworth ereichte. Er schrieb, er sei sicher, dass Du tatsächlich mein Sohn seist!
Du fragst Dich sicher, wieso ich so lange gebraucht habe, um nach Dir suchen zu lassen. Verzeih mir, mein Kind. In meinem Innersten wusste ich immer, dass Du noch lebst, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte.
Erst ein anonymer Brief gab mir den ersten Hinweis. Angeblich hatte ein alter Mann vor seinem Tod sein Gewissen erleichtern wollen. Ich habe nie herausbekommen, wer – obwohl ich den besten Detektiv darauf ansetzte, den Scotland Yard mir empfohlen hatte. Dennoch bin ich ihm dankbar, dass er wenigstens am Ende seines Lebens versucht hat, seine Untaten wiedergutzumachen. Er schrieb, dass ihm vor fast dreißig Jahren ein Mann mit einer Maske und verstellter Stimme einen Beutel Sovereigns geboten hätte, wenn er in einer bestimmten Nacht ein Kind entführen und verschwinden lassen würde. Das Fenster zum Kinderzimmer stand offen wie versprochen. Er betäubte den Kleinen mit Chloroform und wollte gerade mit ihm aus dem Fenster steigen, als das Kindermädchen aufwachte und er gezwungen war, sie ebenfalls zu betäuben.
Er schleppte beide zu einer Jagdhütte, wo er sie einsperrte und zum nächsten Pub ging, um sich Mut anzutrinken. Entgegen seinen großspurigen Behauptungen hatte er nämlich noch nie zuvor ein Kind getötet. Als er zurückkehrte, hatte das Kindermädchen es fertiggebracht, die Tür aufzubrechen und mit ihrem Schützling zu fliehen. Er wollte schon sein Bündel packen und verschwinden, ehe sie die Schlossbewohner alarmierte, als er Kinderweinen aus der entgegengesetzten Richtung hörte. Offenbar hatte sie, noch halb betäubt, die Orientierung verloren und war in Richtung Flussufer geflüchtet. Er folgte ihnen, und als sie ihn bemerkte, warf sie sich mit dem Kind in den Avon, um auf die andere Seite zu schwimmen. Der Halunke konnte
Weitere Kostenlose Bücher