Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
ihm in den Weg. Das Tier drehte um und rannte zurück, auf Lina zu.
»Halt es am Körper fest«, rief Alexander ihr zu. »Nicht am Schwanz!«
Lina reagierte augenblicklich und stellte sich mit gespreizten Beinen hin. Als das Ferkel sich in ihrem langen Rock verfing, beugte sie sich rasch vor und griff nach dem kräftigen Körper. Das kleine Schwein quiekte empört auf und wand sich zappelnd, aber Lina hielt es mit Armen und Beinen fest. Schwer atmend, aber voller Triumph.
»Eins – zwei – drei!« Laut zählte die Menge. Drei Sekunden musste sie das Ferkel halten.
»Gewinnerin der Schweinejagd: Lina Salzmann!«, verkündete Pastor Heine feierlich.
Lina ließ das Tier wieder los und verbeugte sich ein wenig verlegen vor der klatschenden und jubelnden Menge. Ihr Blick streifte Alexander, der ebenfalls klatschte und ihr zulächelte.
Die Menge zerstreute sich rasch, um sich dem nächsten Spektakel zu widmen. Lina wusch sich die nach Seife und Schwein riechenden Hände und das erhitzte Gesicht in einem bereitstehenden Wassertrog. Ein paar honigblonde Strähnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie trocknete sich die Hände an einem Leinentuch, strich die Strähnen zurück und steckte sie wieder fest. Als sie wieder aufblickte, stand Alexander neben ihr. Er sah sie an, als wolle er etwas sagen, hielt ihr dann aber nur einen Becher mit kaltem Tee hin.
»Danke«, murmelte sie und nahm den Becher.
Sie trank hastig, mehr aus Verlegenheit als aus Durst, und blickte über den Rand des Bechers. Da sah sie ihre Schwester und Julius kommen.
»Ina, Ina!«, quakte die kleine Sophie und streckte die dicken Ärmchen nach ihr aus. Rieke hatte sich um sie gekümmert, während Lina das Ferkel gejagt hatte. Nun nahm sie das kleine Mädchen wieder auf den Arm.
»Gehen wir jetzt zum Sackhüpfen?« Riekes Wangen waren rot vor Begeisterung.
»Und danach gibt’s ein Ponyrennen!«, erklärte Julius neben ihr aufgeregt.
Lina warf Alexander einen scheuen Blick zu. Er nickte.
Die Straßen in der Ortsmitte waren voller Menschen, denn zum Nelson-Tag war so gut wie jeder Einwohner gekommen. Alle hatten an diesem Tag frei; das Volksfest wurde nun schon zum dritten Mal gefeiert, seit die ersten Siedler Anfang Februar 1842 in der Bucht von Whakatu gelandet waren. Vor Kurzem hatte es eine Volkszählung gegeben: In Nelson lebten jetzt knapp dreitausend Menschen, darunter einhundertzwanzig Deutsche, die allgemein wegen ihres Fleißes geschätzt wurden.
Unter den Feiernden sah Lina auch ein paar Maori. Sie waren mit einem einfachen Kilt aus gewebtem Flachs bekleidet oder hatten sich in Decken gehüllt. Einer trug eine europäische Jacke über seinem Flachsröckchen, ein anderer eine weiße Hose. Auf seinem dichten, rostfarbenen Haar saß eine Biberpelzmütze mit einer schmalen Krempe, die viel zu klein war für seinen Kopf. Inzwischen wusste Lina zwar, dass die Maori aus Nelson nichts mit dem Wairau-Massaker zu tun hatten, doch mit ihren tätowierten Gesichtern, die furchterregenden Masken glichen, wirkten sie auf Lina dennoch abschreckend. Sie achtete darauf, ihnen nicht zu nahe zu kommen.
Am Vormittag hatten alle im Hafen einer kleinen Segelregatta zugeschaut. Besonders spannend war das Bootsrennen der Maori, das danach stattfand. In einem der Kanus saßen acht Ruderer, darunter sogar zwei Frauen, wie Lina staunend bemerkte, im anderen neun. Die Ruderer hatten sich ihrer europäischen Kleidung entledigt und zeigten ihre bloßen, kräftigen Schultern. Am Ende gewann das Boot mit den neun Insassen nur um Haaresbreite und begeisterter Applaus erscholl vom Ufer.
Anschließend hatte es Spiele wie Schubkarrenrennen und Blindekuh gegeben, Wettbewerbe im Schießen und Pflügen, und in einem Gebäude hatte man eine Gartenschau aufgebaut, für die sich besonders Mr Treban interessierte. Jedermann wollte einen Blick auf die Gemüse- und Blumenausstellung werfen, bei der es nur so wimmelte von Weizen-, Gerste- und Haferbündeln, von Rettich, Gurken, Melonen und Tabakpflanzen. Seit dem Morgen übertrafen sich die Einwohner Nelsons damit, ihre Schätze mit Handwagen und Fuhrwerken heranzubringen; Körbe und Schubkarren voller Kürbisse und dicken Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln und Bohnen oder voll mit bunten Blumen luden sie ab. Auch Mr Treban war vom Wettbewerbsfieber angesteckt worden. Alle Familienmitglieder hatten dabei geholfen, ein paar der schönsten Gewächse aus seinem Gemüsegarten heranzuschaffen und der
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