Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
sie gefangen hatte. Der Brauch besagte, dass Anna als Nächste heiraten würde. Lina fragte sich, wer wohl der Glückliche sein würde.
Die Deutschen blieben an diesem Tag unter sich. Lina hatte zwar kurz überlegt, auch Appo Hocton einzuladen, aber das hatte sie wieder verworfen. Appo sprach kein Deutsch und in der Gesellschaft der deutschen Auswanderer wäre er sich sicher wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen.
Genau wie Lina. Am liebsten hätte sie sich verkrochen. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um die Gratulationen und guten Wünsche entgegenzunehmen, um zu lächeln und zu danken. Die neugierigen Blicke der meisten Gäste blieben ihr nicht verborgen. So manch einer schien sich über das ungleiche Brautpaar zu wundern, über das junge Mädchen und den Mann, der ihr Vater hätte sein können.
Der Geruch nach gegrilltem Fleisch erfüllte die Luft. Nachbarn und Freunde hatten es sich nicht nehmen lassen und ein Schwein geschlachtet, das jetzt auf offenem Feuer gebraten wurde. Außerdem hatte jemand ein paar Kakas, Fruchttauben und Aale zubereitet. Dazu wurden Kartoffeln, Rüben und Erbsen gereicht und zum Nachtisch Apfelkuchen. Es war ein richtiges Festmahl.
Lina aß kaum etwas. Mehrmals versuchte sie, einen Blick von Alexander zu erhaschen, der an Rudolf Trebans anderer Seite saß, aber stets wich er ihr aus. Und kaum war das Essen vorüber, gab er sogar demonstrativ seinen Platz auf und setzte sich einige Stühle weiter weg.
Es wurde Herbst, doch noch schmeckte die Luft sonnenschwer und nach Spätsommer. In den Bäumen ringsum lärmten die Tuis in ihrem grün und blau schillernden Federkleid, als freuten sie sich über das Fest. Die Dämmerung zog sich dahin wie schon den ganzen Sommer hindurch; die tief stehende Sonne verströmte noch lange ein diffuses, gleißendes Licht. Die Gäste aßen, tranken und ließen das Brautpaar hochleben. Bald schon ging es auch um andere Dinge als die Hochzeit.
»Habt ihr gelesen, was neulich im Examiner stand?«, fragte Mr Bensemann. »Sie wollen eine Bürgerwehr in Nelson gründen.«
»Eine Bürgerwehr?«, fragte Fedor Kelling und nahm sich noch ein Stück Apfelkuchen. »Weshalb?«
»Zum Schutz der Siedler vor den Maori. Jeder männliche Einwohner zwischen achtzehn und sechzig Jahren wird demnächst für einen Monat zum Dienst verpflichtet. Oben im Fort soll die Ausbildung stattfinden.«
»Jeder männliche Einwohner?«
Bensemann nickte. »Jeder zwischen achtzehn und sechzig Jahren. Nur Pfaffen und Wilde nicht – Entschuldigung, Pastor, ich meinte natürlich, Geistliche und Maori nicht.«
Pastor Heine nickte bedächtig und kaute mit vollen Backen.
»Gut so«, nickte ein anderer Gast, dessen Name Lina sich nicht hatte merken können. »Schließlich müssen wir uns gegen diese kriegerischen Wilden schützen. Wer weiß, wann hier so etwas passiert wie damals in Wairau!«
»Das ist lächerlich«, mischte sich Alexander ein. Er hatte die ganze Zeit noch nichts gesagt, aber jetzt konnte er sich offenbar nicht länger zurückhalten. »Man kann doch die Wairau-Maori nicht mit denen gleichsetzen, die hier leben.«
»Ach, diese Wilden sind doch alle gleich!«, gab der Gast zurück. »Peter Marxheimer hat erzählt, die Wilden sollen einen neuen Überfall planen. Und dass sie alle Weißen aus dem Land vertreiben wollen.«
»Ach komm schon!«, fiel Bensemann ein. »Peter hat auch erzählt, ihm sei auf dem Nachhauseweg ein Geist erschienen, mit dem er sich dann die ganze Nacht unterhalten habe. Dabei hatte er nur zu tief ins Glas geschaut!«
Alle lachten. Nur Alexander nicht. Lina beobachtete ihn verstohlen. Er war achtzehn Jahre alt. Oder sogar schon neunzehn? Sie hatte ihn noch nie gefragt, wann er Geburtstag hatte. Und jetzt war schon gar nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
»Zahlen sie einem wenigstens Geld für diesen Dienst?«, knurrte Rudolf Treban neben ihr. »Sie können nicht verlangen, dass gleich zwei kräftige Männer ausfallen!«
»Natürlich«, bekräftigte Bensemann. »Es gibt sogar einen recht ordentlichen Sold, habe ich gelesen.«
»Ich werde jedenfalls nicht dorthin gehen«, verkündete Alexander. »Egal, was es dafür gibt.«
»Das würde ich mir aber noch mal überlegen«, sagte Bensemann. »Jeder, der nicht zum Dienst antritt oder unentschuldigt fehlt, wird ein Bußgeld zahlen müssen. Bis zu zwanzig englische Pfund, hieß es.«
»Da siehst du es.« Treban schnaufte und blickte über den Tisch hinweg seinen ältesten Sohn an. »Hör endlich auf,
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