Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
aber nur ins Leere.
Schreiend rutschte sie den Abhang hinunter. Der Himmel drehte sich über ihr, ein blendend weißer Schmerz schoss durch ihren linken Fußknöchel.
O bitte, lieber Gott, ich will nicht sterben …! Geröll und Äste schlugen ihr ins Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwo festzuhalten, klammerte sich an Gräsern und Wurzeln fest, die ihr sofort wieder entglitten – und bekam endlich, endlich etwas zu fassen. Mit einem Ruck, der ihr fast den Arm auskugelte und der ihren Körper schier zu zerreißen schien, wurde ihr Fall gestoppt.
Keuchend und zitternd blickte sie auf – und japste auf vor Schreck: Sie hing an einer Klippe, unter ihr gähnte der Abgrund, sicher mehr als hundert Meter tief. Wenn sie dort hinunterfiel, wäre sie tot. Nur ein knorriger, verwitterter Strauch, den sie mit ihrer Rechten zu fassen bekommen hatte, hielt ihr Gewicht.
Panisch hob sie den Kopf. Einige Meter über ihr, dort, wo der Steilhang in ebenes Gelände überging, sah sie Seip stehen. Mit kalkweißem Gesicht, den Revolver noch in der Hand, blickte er auf sie herunter.
»Mr Seip, Hilfe!« O Gott, der Strauch löste sich mit einem knirschenden Geräusch langsam aus der Erde. Erde rieselte an ihr vorbei, fiel dann in die Tiefe. Lange würde sie sich nicht mehr halten können! »Bitte! Bitte, beeilen Sie sich!«
Seip fluchte in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch, steckte den Revolver ein und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Was tat er? Holte er ein Seil oder etwas anderes, mit dem er ihr helfen konnte? Lina klammerte sich an diese Hoffnung, zwang sich, ruhig zu atmen. In ihrer Schulter riss es, wieder rieselte Erde an ihr vorüber. Der Strauch neigte sich bedrohlich.
Wieso kam Seip nicht zurück? Wieso sagte er nichts?
»Mr Seip!«, schrie sie. »Wo sind Sie?«
Sie erhielt keine Antwort. Nur das Rauschen des Blutes in ihren Ohren.
»Seip!«, schrie sie erneut. »Bitte, helfen Sie mir! Kommen Sie zurück! Sie können mich doch hier nicht alleine lassen …«
Aber er kam nicht zurück. Er würde sie hier einfach sterben lassen.
Ihre rechte Hand, mit der sie sich an dem Strauch festklammerte und die ohnehin schon von den Blasen zerschunden war, brannte wie Feuer. Ihre Schulter fühlte sich an, als würde sie gleich zerreißen. Sie spürte, wie die paar Zweige ihr immer mehr entglitten. Ihre freie linke Hand angelte nach oben, versuchte, ebenfalls den Strauch zu erhaschen, erreichte ihn aber nicht.
»Hilfe, bitte helfen Sie mir!« Ihre Stimme wurde schriller, überschlug sich vor Panik.
O Gott, o Gott, die Zweige rutschten ihr aus der Hand, gleich würde sie fallen, tief und immer tiefer, würde dort unten aufschlagen …
»Ich hab dich!«
Zwei Hände schlossen sich um ihren Unterarm.
Kapitel 20
Plötzlich waren noch weitere Hände und Arme da. Lina fühlte sich nach oben gezogen und emporgehoben. Fort von dem entsetzlichen Abgrund, weiter aufwärts. Wie betäubt vor Schock sah sie, wie Geröll und Sand hinabrieselten, über die Kante fielen und aus ihrer Sicht verschwanden.
Zwei Männer hielten sie, trugen sie den Abhang hinauf. Der eine war Alexander. Er sprach mit ihr, wiederholte immer wieder, dass sie in Sicherheit sei. Es tat so gut, seine Stimme zu hören, zu wissen, dass er da war. Dass sie gerettet war. Lina klammerte sich an ihn. Sie merkte kaum, wie sie schluchzte und zitterte.
Sobald sie ebenes Gelände erreicht hatten, einige Meter von der Kante entfernt, wurde sie vorsichtig abgesetzt. Doch kaum stand sie, schoss ein scharfer Schmerz durch ihren linken Fuß. Sie versuchte, sich an Alexander festzuhalten, sank aber wimmernd zusammen. Alles drehte sich um sie, schwarze Schleier griffen nach ihr.
»Was ist los?«, fragte Alexander besorgt und kniete sich neben sie. »Hast du dich verletzt?« Er nahm ihre rechte Hand in seine.
»Mein Fuß«, keuchte Lina. Schock und Schmerz ließen sie am ganzen Leib zittern. »Ich glaube, er ist gebrochen. Ich kann nicht auftreten.«
Eine fremde Stimme sagte etwas und Lina hob den Blick. Ihre Augen weiteten sich, als sie zum ersten Mal wirklich wahrnahm, wer mit Alexander gekommen war.
Es war ein kräftiger Maori von ungefähr fünfzig Jahren. Er trug nicht mehr als ein einfaches Flachsröckchen, über das sich ein stattlicher Bauch wölbte. Brust, Schultern, Oberschenkel und auch sein Gesicht waren bedeckt von ornamentalen Tätowierungen, die langen schwarzen Haare am Oberkopf zusammengebunden und mit Federn geschmückt. An seinem Hals hing ein
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