Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
behalten. Dann tastete ihre Hand an ihre rechte Seite, suchte nach ihm, der Wärme seiner Haut, seinem Geruch.
Da war nichts.
Erschrocken schlug sie die Augen auf. Es war heller Morgen, die Vögel zwitscherten lauthals und sie lag allein unter den beiden Decken. Alexander war nirgends zu sehen. Das Feuer war niedergebrannt, kalte Asche bedeckte die Feuerstelle. Daneben pickte ein braunes Buschhuhn in den Resten ihres Abendessens und beäugte Lina neugierig. Es schien keine Angst vor ihr zu haben. Gestern Abend hatte Alexander ein paar Schlingenfallen für diese flugunfähigen Vögel ausgelegt, die hier überall durch das Unterholz staksten. Nach dem ersten Schrecken beruhigte sie sich wieder. Vermutlich war Alexander kurz in die Büsche gegangen oder sah nach den Fallen.
Sie wartete noch ein paar Augenblicke, dann erhob sie sich. Die Morgendämmerung zog ein purpurfarbenes Band über den östlichen Himmel.Linaschüttelte die Decken aus, faltete sie zusammen und verstaute sie in einem Beutel. Dann ging sie ihrerseits einem dringenden Bedürfnis nach. Danach pflückte sie noch so viele von den süßen Palmfrüchten, die Alexander so gerne aß, wie sie mit beiden Händen tragen konnte. Er würde sich bestimmt darüber freuen. Und sie vielleicht erneut küssen.
Als sie zurückkam, fröstelnd in der Morgenkühle, die Schuhe feucht vom Tau, war er immer noch nicht da.
Allmählich begann sie, sich Sorgen zu machen. Wo blieb er nur so lange? Und wieso hatte er ihr nicht Bescheid gegeben? Die Wildnis um sie herum mit all ihren vielen Büschen, Bäumen und den meterhohen Farnen kam ihr plötzlich wieder bedrohlich vor.
Sie trank ein paar Schlucke aus der Feldflasche, dann räumte sie den Rest ihrer Sachen zusammen. Etwas fehlte, aber sie kam nicht sofort darauf, was es war. Dann erstarrte sie. Das Gewehr! Alexander hatte das Gewehr mitgenommen!
Natürlich konnte das auch ganz harmlose Gründe haben. Er konnte zum Beispiel einen Vogel schießen wollen. Aber die meisten Vögel waren besser mit Fallen oder der Steinschleuder als mit einer Schusswaffe zu erledigen und man verschwendete auch keine teure Munition. Abgesehen davon machte es wenig Spaß, auf Schrotkugeln herumzukauen. Und größere oder gefährliche Tiere gab es hier nicht. Nur den Menschen.
Hatte Alexander gestern nicht vermutet, ihnen würde jemand folgen? Wenn ihnen nun ein paar feindliche Maori nachstellten?
Das Knacken von Zweigen ließ sie herumfahren.
»Alex?«
Sie erhielt keine Antwort. Linas Nackenhaare stellten sich vor Furcht auf, es fühlte sich an, als laufe etwas mit vielen kleinen Beinchen ihr Genick empor. Sie griff nach dem Messer, das neben der Feuerstelle lag und mit dem sie in den vergangenen Tagen das Essen vorbereitet hatte.
Lina fuhr zusammen: Aus den Büschen stob laut krächzend ein Schwarm bunter Vögel auf.
»Alex?« Ihr Ruf war kaum mehr als ein lautes Flüstern.
Wieso meldete er sich nicht? War er womöglich in Gefahr?
Sie schluckte und griff das Messer fester. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Sie würde ihn suchen gehen.
Lina kämpfte sich durch dorniges Gestrüpp, das an ihrem Rock zerrte. Ein reißendes Geräusch ertönte: Ein Zweig hatte ihr den Rocksaum eingerissen. So ein Mist aber auch!
Immer dichter wurde das Gebüsch. Überall versperrten ihr lange, fingerdicke Ranken den Weg. Sie wanden sich um jeden Baumstamm, jeden Strauch und bildeten ein nahezu undurchdringliches Geflecht. Mit ihrem kleinen Messer konnte Lina sie nicht einmal durchschneiden. Winzige trockene Beeren hingen an den ineinander verschlungenen Ranken. Supplejack hatte Alexander diese Pflanze gestern genannt. Die jungen Triebe könne man kochen und essen, dann würden sie fast wie grüne Bohnen schmecken. Lina wollte keine Bohnen, sie wollte endlich Alexander finden. Wo war er bloß?
Sie wandte sich nach links, kämpfte sich eine Weile weiter, bis das furchtbare Gestrüpp endlich endete. Hier wuchsen riesige Farne, deren dunkelgrüne Wedel über zwei oder drei Meter hoch aufragten. Ein wahrer Urwald aus Farnen.
Sie schrak zurück, als hätte sie sich verbrannt: Nur einen Schritt weiter, und sie wäre einen Abhang hinuntergestürzt. Einige Sträucher und Farne wuchsen auf dem stark abschüssigen Gelände. Dahinter ging es offenbar senkrecht bergab. Tief unten breitete sich eine weite, grasbewachsene Ebene aus, durch die sich ein silbrig glitzernder Fluss wand.
Linas Gliedmaßen fühlten sich wie gelähmt an, in ihrem Magen zog es, als hätte sie
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