Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
kreiste.
»Wir sind gleich da«, sagte Te Raukura und drehte seinen Kopf. »Hörst du das, Terina?«
Lina auf seinem Rücken lauschte. Da waren die leisen Schritte der beiden Männer auf dem Waldboden, das Rascheln der Blätter, entferntes Vogelgeschrei. Sonst nichts. Sie wollte schon den Kopf schütteln, doch dann, ganz leise, drang noch etwas an ihr Ohr. Etwas wie ein entferntes Rauschen oder Brüllen. Ein Tier?
Immer näher kamen sie dem seltsamen Geräusch, immer lauter wurde es mit jedem Schritt, den sie weiter vorankamen. Nein, das konnte kein Tier sein. Kein Tier brüllte in einem dermaßen gleichmäßigen Ton.
Dann trat Te Raukura durch die dichte Wand aus Büschen und Bäumen, und über seine Schulter hinweg sah Lina, was diesen Lärm verursachte: Sie blickte von oben auf einen großen Wasserfall. Über eine breite, felsige Kante ergoss sich das Wasser im freien Fall senkrecht eine Felswand hinab, stürzte in einer mächtigen Kaskade viele Meter nach unten. Ein Absatz im Gestein spaltete den Strom in zwei breite Fälle auf, die sich in einem kleinen, fast kreisrunden See sammelten. Weiße Gischt stob auf, in der Luft tanzten bunte Schlieren. Ein feiner Nebel aus winzigen Wassertröpfchen erfüllte die Luft; in Sekunden war Linas Gesicht mit einer feuchten Schicht überzogen. Überall wogte es vor Grün.
Lina war stumm vor Erstaunen. Ein solch majestätisches Gefälle hatte sie noch nie gesehen. Eigentlich hatte sie noch nie einen richtigen Wasserfall gesehen, höchstens ein paar Rinnsale, die diesen Namen nicht wirklich verdienten.
»Da sind sie! Ich sehe sie!«
Aufgeregt wies sie nach unten auf den See. Am Ufer stand eine kleine Gestalt. War das nicht Rieke? Das Mädchen hatte den Blick aufs Wasser gerichtet und winkte einer Person zu, die gerade den Kopf aus dem Wasser steckte und gleich danach wieder untertauchte. Das war bestimmt Julius.
Lina lachte befreit. Auch Alexander war die Erleichterung anzusehen. Er winkte und rief, aber sie waren zu weit entfernt und der Wasserfall zu laut, als dass die Kinder sie hätten bemerken können.
»Wir gehen runter«, beschloss er.
Beim Abstieg über einen schmalen, matschigen Pfad klammerte Lina sich erneut an Te Raukuras breitem Oberkörper fest. Alexander und der Maori mussten die Füße hier vorsichtiger als auf der geraden Strecke setzen, denn der feuchte Sprühnebel, der hier überall in der Luft hing, machte den Weg rutschig. Erneut tauchten sie ein in den dichten Wald. Für eine Weile verloren sie dabei die Kinder aus den Augen.
Es dauerte nicht lange, bis sie den Fuß des Wasserfalls erreicht hatten und zum See liefen. Grünes, saftiges Gras bedeckte hier den Boden.
Es war tatsächlich Rieke, die noch immer am Ufer stand und auf den See hinausblickte. Dort, wo Julius durchs Wasser paddelte. Im nächsten Moment war er wieder untergetaucht. Rieke drehte sich um.
Als sie Alexander erblickte, der sie als Erster erreichte, formte ihr Mund vor Überraschung ein stummes »O«. Beim Anblick des Maori hinter ihm schwankte sie offensichtlich zwischen Verwirrung und Furcht, bis sie ihre Schwester auf seinem Rücken entdeckte. Ein breites Strahlen ging über ihr Gesicht.
»Lina!«
Te Raukura ließ Lina vorsichtig von seinem Rücken gleiten, auf das weiche Gras. Sie konnte stehen, achtete aber darauf, den verletzten Fuß nicht zu belasten. Im nächsten Moment fielen sich die Schwestern in die Arme.
»Friederike Salzmann, so etwas darfst du nie wieder machen, hörst du?« Lina musste schreien, um den tosenden Wasserfall zu übertönen. Hier unten war es furchtbar laut. »Ihr habt uns einen riesigen Schrecken eingejagt!«
»Aber Julius und ich wollten doch nur nach dem Gold suchen«, gab Rieke zurück. »Dann sind wir nämlich reich und können unsere Schulden bezahlen.«
Lina fühlte sich gepackt und von ihrer Schwester fortgezogen. Sie wollte schon protestieren, als sie Alexanders besorgtes Gesicht sah.
»Julius taucht nach Gold?«, rief er Rieke zu.
»Ja, schon ganz lange«, gab das Mädchen brüllend zurück. »Er hat gesagt, irgendwo da drinnen muss es sein. Ich hab ihm gesagt, er soll rauskommen, aber er hört nicht auf mich.«
Bis auf die Stelle, wo der Wasserfall ihn aufwirbelte, lag der See ruhig da. Zu ruhig. Keine planschenden Füße oder Arme. Keine Luftbläschen, die anzeigten, dass hier jemand unter Wasser schwamm.
Lina konnte sehen, wie die Farbe aus Alexanders Gesicht wich.
»Müsste er nicht längst wieder aufgetaucht sein?«, wollte
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