Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
saß an der Böschung über einem schmalen Flusslauf, hatte den Fuß auf einen Grashügel gelegt und stellte Flachsbänder her. Te Raukura hatte ihr einen Packen der langen, festen Blätter gebracht, die er ganz in der Nähe geschnitten hatte. Von der Flachspflanze, hatte er ihr erklärt, durfte man nur die äußeren Blätter verwenden, die er tupuna, Großeltern, nannte. Die Eltern und das Baby, wie die inneren Blätter hießen, durften nicht verletzt werden, sonst würde die Pflanze sterben. Er hatte ihr noch eine ganze Menge mehr über Pflanzen und ihre Heilkräfteerzählt, während sie hierhergelaufen waren – auf geheimen Pfaden durch den Busch. Selbst Alexander hatte zugegeben, dass er diesen Weg nicht kannte. Der Maori hatte Lina erneut getragen, obwohl sie protestiert und versichert hatte, ihrem Fuß gehe es wieder gut. Aber sie musste zugeben, dass es besser war, wenn sie den Knöchel noch ein wenig schonte; allein der kurze Weg in die Büsche vorhin hatte ihn erneut schmerzhaft pochen lassen.
Der Fluss, der träge und schmutzig braun dort unten entlangfloss, würde sie am schnellsten zurück auf den Maitai und damit nach Nelson führen. Das hatte zumindest Te Raukura behauptet.
Linas Blick ging ans Flussufer, wo die Kinder den Rohrkolben schnitten, der hier in dichten Büscheln wuchs. Raupo nannten ihn die Maori. Später wollte Te Raukura ihnen zeigen, wie man daraus ein Boot bauen konnte.Rieke stand neben Julius am Ufer, nahm die abgeschnittenen raupo -Stauden in Empfang und legte sie zum Trocknen aus. Lina musste lächeln, als sie sah, wie sehr ihre Schwester sich damit beeilte, um schnell wieder an Julius’ Seite zu sein.
Ihr Lächeln vertiefte sich und die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten auf, als Alexander mit einem Armvoll langer grüner Flachsblätter die Böschung heraufkam und die Blätter auf ihren Stapel legte. Als sich ihre Finger dabei berührten, hielt er ihre Hand für einen Moment fest und drückte sie, dann löste er seinen Griff wieder.
Als Lina ihm glücklich nachsah, erhaschte sie einen Blick von Rieke: Ihre kleine Schwester grinste bis über beide Ohren. Lina schoss das Blut ins Gesicht. Mist, Rieke hatte etwas gemerkt!
Jetzt, da sie nicht mehr alleine waren, mussten Alexander und sie ihre Gefühle füreinander verbergen. Ein heimlicher Blick, eine verstohlene Berührung – mehr war kaum möglich. Lina war schließlich gerade Witwe geworden und musste das Trauerjahr einhalten. Und als wäre das alles noch nicht genug, war sie offiziell auch noch die Stiefmutter von Sophie, Julius – und auch von Alexander. Eine verzwickte Situation. Es war besser, wenn sie beide sich vorerst so unauffällig wie möglich verhielten.
Daneben beschäftigte sie schon seit einiger Zeit ein bestimmter Gedanke: Sie war zwar mit Rudolf vermählt worden, doch die Ehe war nicht vollzogen worden. War sie unter diesen Umständen überhaupt richtig verheiratet gewesen? Und falls nicht: Welche Konsequenzen hätte das für sie?
Sie musste wirklich dringend mit Alexander reden. Aber nicht hier, nicht, wenn die Kinder dabei waren.
Am späten Nachmittag begannen sie mit dem Bau eines mokihi, wie Te Raukura es nannte. Lina und die Kinder sahen zu, wie Alexander und der Maori aus dem getrockneten raupo ein großes, dickes Bündel formten, breit in der Mitte, zu den Enden hin spitz auslaufend, und alles mit den Flachsbändern zusammenbanden. Auf die gleiche Weise entstanden weitere Bündel, wobei diesmal auch die Kinder und Lina mithalfen.
Es war eine schweißtreibende Angelegenheit. Drei der Bündel legten sie nebeneinander und zurrten sie mit Flachs so aneinander, dass sie ein flaches Floß bildeten. Aus einem weiteren Bündel, das sie in der Mitte anbrachten, wurde eine Art Kiel. Jetzt war der Boden fertig.
»Umdrehen«, wies Te Raukura sie an und gemeinsam stülpten sie den Boden um. Jetzt kamen zwei schmalere Bündel der Länge nach an die Außenseiten. Da Lina sich als die Geschickteste von ihnen erwiesen hatte, musste sie alles mit Flachs zusammenbinden. Als Letztes stopften sie weiteres raupo in alle Lücken und zurrten alles noch einmal gut fest, dann war das mokihi fertig.
Ein Kanu aus Binsen, groß genug, um fünf Leute zu tragen. Nach Hause.
Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück aus Beeren und frischem, in Flachsblättern gedünstetem Fisch, sah sich Te Raukura noch einmal Linas Fuß an. Die Nachtruhe und die Pflanzenpaste hatten dem eingerenkten Knöchel gutgetan; die Schwellung
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