Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
hatte …
Das war es! Sie musste ihren Atem mit Julius teilen!
Erfüllt von neuer Hoffnung rutschte sie seitlich neben den Jungen. Alexander sah sie verständnislos an, aber sie achtete nicht auf ihn. Mit der linken Hand öffnete sie Julius’ schlaffe Kiefer und hielt ihm mit der Rechten die Nase zu. Dann holte sie tief Luft, beugte sich über ihn, als wolle sie ihn küssen. Ihre Lippen legten sich über seine kalte, klamme Haut, als sie vorsichtig ihren Atem in seinen geöffneten Mund blies.
Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass sich der kindliche Brustkorb leicht hob. Sie hielt kurz inne, bis der Brustkorb sich wieder senkte, dann holte sie erneut Luft und blies sie wie zuvor in Julius’ Mund. Täuschte sie sich oder wies die Haut des Jungen tatsächlich eine leicht rosige Färbung auf?
Später sollte sie sich noch oft an diese unwirkliche Situation erinnern: wie sie versuchte, Julius neuen Atem einzuhauchen, umringt von Alexander, Rieke und Te Raukura, im Hintergrund der tosende Wasserfall, Sprühnebel in der Luft, das weiche Gras unter ihr.
Sie hatte kein Gefühl mehr dafür, wie viel Zeit vergangen war, wie oft sie ihren Atem mit Julius geteilt hatte. Aber plötzlich bewegte sich der tot geglaubte Körper unter ihr. Verkrampfte sich. Hustete. Mit einem großen Schwall kam Wasser aus Julius’ Mund und durchnässte Linas Kleidung. Einmal und noch einmal hustete er, dann schlug er die Augen auf. Er sah verwirrt um sich, hustete erneut, dann richtete sich sein Blick auf seinen Bruder.
»Alex?«, murmelte er.
Und Alexander nickte und schluchzte und umarmte ihn stürmisch. Über Julius’ Kopf hinweg richtete sich sein Blick auf Lina.
»Danke«, formten seine Lippen lautlos.
Kapitel 22
››Julius ist doch nicht mit Absicht ertrunken«, erklärte Rieke. »Er wollte doch nur nach dem Gold tauchen.«
Lina musste sich zurückhalten, um nicht zu lachen. Ihre Schwester legte sich ja mächtig ins Zeug für ihren kleinen Freund.
Julius nickte zur Bestätigung. Er war in zwei Decken gehüllt und zitterte leicht, aber sein anfangs noch käsebleiches Gesicht hatte schon wieder Farbe. Sie hatten sich einen Platz weiter abseits unter ein paar Bäumen gesucht, wo das Tosen des Wasserfalls nur noch als ein leises Rauschen zu hören war.
»Du hättest um ein Haar sterben können, ist dir das eigentlich klar?«, schimpfte Alexander.
Auch er hatte eine Decke um sich geschlungen, während seine Kleider an einem prasselnden Feuer trockneten – wieder einmal. Te Raukuras Flachsröckchen war dagegen schon wieder trocken.
»Alex, bitte«, versuchte Lina einzulenken. »Es ist ja noch einmal gut gegangen.«
»Ja, aber nur, weil du nicht aufgegeben hast.«
Rieke nickte wichtig zu Julius hinüber. »Sie hat dich nämlich geküsst.«
»Was?«, machte dieser entsetzt. »So richtig auf den Mund?«
Rieke nickte erneut.
»Igitt!«
Lina sah, dass sich jetzt auch Alexander das Lachen verkneifen musste. Dennoch gelang es ihm, Julius streng anzusehen. »Tu das nie, nie wieder, hörst du?«
»Aber …«
»Nie wieder!« Alexander war gar nicht so böse, wie er sich anhörte – dafür waren er und auch Lina viel zu froh und erleichtert, dass Julius wieder unter den Lebenden weilte. Das Donnerwetter, das sich die Kinder hatten anhören müssen, war daher weitaus glimpflicher als geplant abgelaufen.
Julius wollte noch etwas erwidern, aber er schluckte es hinunter, senkte den Blick und nickte stumm.
»In Ordnung, dann ist es ja gut.« Alexander streckte die Hand aus und fuhr seinem verschämt grinsenden kleinen Bruder durch das feuchte Haar. »Außerdem gibt es hier kein Gold.«
»Es gibt kein Gold?«, wiederholte Julius. »Aber … du hast damals doch gesagt, du hast das Gold am Wasserfall gefunden.«
»So ist es. Aber nicht an diesem Wasserfall. Hier wirst du kein Gold finden.«
»Ach so …«, machte Julius enttäuscht.
»Nicht an diesem?«, wiederholte Lina. Insgeheim hatte auch sie gehofft, dass sie mit einem möglichen Goldfund ihre Schulden loswerden könnten. Es musste ja niemand davon erfahren.
»Nein«, erwiderte Alexander, und das war das Letzte, was er dazu sagte.
Lina griff nach einem neuen Flachsblatt und kniff mit dem Daumennagel die harte innere Mittelrippe fort. Dann teilte sie die verbliebenen Stränge und zog sie vorsichtig auseinander, sodass sie lange, fingerbreite Streifen erhielt. Wenn man nicht aufpasste, schnitten sie einem in die Finger, außerdem waren ihre Blasen noch immer nicht verheilt.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher