Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
sie gerade fragen, aber da zerrte er sich schon die schweren Schuhe von den Füßen und rannte ins Wasser. Te Raukura folgte ihm augenblicklich.
Um Linas Herz legte sich ein eisernes Band, Kälte kroch in ihr hoch. Julius! Was passierte hier? War er etwa – sie wagte kaum, diesen Gedanken zu formulieren – ertrunken? Jetzt, wo sie die Kinder gerade gefunden hatten?
Auch Rieke hatte verstanden. Mit entsetzt aufgerissenen Augen stand sie gemeinsam mit Lina am Ufer und starrte zur Mitte des kleinen Sees, wo die beiden Männer nun untertauchten.
Lina kam sich entsetzlich hilflos vor. Wenn sie doch nur schwimmen könnte! So aber musste sie nutzlos am Ufer stehen und konnte nicht mehr als hoffen, bangen und beten.
Da! Da kam einer wieder hoch! Nein, es war nur Alexander, der nach Luft schnappte, sich hektisch umsah und sofort wieder unter Wasser verschwand. Auch Te Raukura tauchte kurz zum Atemholen auf und danach sofort wieder unter.
Weitere endlose Sekunden vergingen. Tack, tack, tack. Lina zählte angespannt mit. Wie lange konnte man unter Wasser bleiben, ohne dass man atmen musste? Sie hatte selbst einmal versucht, so lange wie möglich den Atem anzuhalten, aber sie war nicht weit gekommen.
Dann, endlich, erschienen beide wieder an der Oberfläche. Und diesmal – ja, Alexander hielt etwas in seinen Armen. Julius! Ein Glück, sie hatten ihn gefunden!
Aber etwas stimmte nicht. Der Junge rührte sich nicht, seine Arme und Beine hingen wie leblos herab, als sie ihn ans Ufer trugen. Seine Haut war aschfahl, seine Lippen blau.
»Nein«, schluchzte Rieke. »Nein! Julius!«
Alexander dagegen brachte kein einziges Wort hervor. Stumm und mit einem Ausdruck von fassungslosem Entsetzen ging er am grasigen Ufer in die Knie, ohne Julius loszulassen, und wiegte seinen kleinen Bruder in den Armen.
In Linas Kopf ging alles durcheinander, ihre Gedanken wirbelten in grauen Schlieren durch ihren Kopf und zogen sie hinab. Das konnte, das durfte nicht wahr sein!
Dann endlich drang ein einzelner, wichtiger Gedanke durch: Sie konnte helfen! Sie wusste, was sie tun musste!
Sie humpelte zu Alexander und kniete sich neben ihn nieder. »Lass mich etwas versuchen.«
Er sah sie an und in seinen Augen glomm ein Fünkchen verzweifelter Hoffnung auf. Sie nahm ihm Julius’ nassen, bewegungslosen Körper aus den Armen. Versuchte, all ihre Ängste und Sorgen, alle anderen Gedanken auszuschalten. Nur an die nächsten Schritte zu denken.
Sie musste Julius retten. Aber ihr Kopf war vollkommen leer. Was war zu tun?
In Boltenhagen an der Ostseeküste hatte sie immer wieder die am Strand aufgehängten Plakate studiert, die erklärten, wie man mit einem Ertrunkenen umzugehen hatte. Aber was genau stand darauf? Was musste sie tun?
Sie schloss die Augen und versuchte, sich das Plakat in Erinnerung zu rufen. Sah die Tafel aus groben Holzplanken wieder vor sich, die platt geklopften Nägel, den Sand, der über die Ständer wehte. Roch die salzige Luft, Seetang, Muscheln. Und langsam formte sich ein Bild, bis Lina das Plakat so deutlich vor sich sah, als läge es neben ihr. Sie wusste es wieder.
Sie zog ihre kurze Jacke aus und knüllte sie zusammen. Mit Alexanders Hilfe hob sie Julius’ Brustkorb an, schob die Jacke darunter und legte den Jungen dann sanft zurück. Alexander sagte nichts, half ihr nur stumm dabei. Sie kniete sich hinter den Kopf des Jungen, griff nach seinen Handgelenken, kreuzte seine schlaffen Arme vor seiner Brust und drückte sie fest auf den kindlichen Brustkorb. Dann löste sie den Druck und zog Julius’ Arme weit nach oben. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Erneut beugte sie sich vor, presste seine gekreuzten Arme auf seinen Brustkorb, löste den Druck, zählte erneut bis fünf. Und noch einmal. Und noch einmal.
Es half nichts. Er atmete nicht.
Wieder und wieder versuchte sie es. Presste, löste, zählte. Nichts.
Ein Arm legte sich um sie. »Terina«, hörte sie Te Raukuras Stimme an ihrem Ohr. »Hör auf.«
Schluchzend ließ sie von Julius’ leblosem Körper ab. Sie senkte den Kopf, wagte nicht, Alexander oder Rieke anzusehen oder irgendetwas zu sagen. Sie hatte es nicht geschafft. Sie hatte versagt. Julius war tot.
Aber das konnte nicht sein! Gab es denn wirklich nichts, was den Jungen zum Leben erwecken würde?
Ihr Blick fiel auf den großen Maori, der mit gesenktem Kopf neben ihr kniete. Heute Morgen erst hatte er ihr gemeinsam mit Alexander das Leben gerettet, hatte mit ihr den Atem geteilt, wie er es nannte,
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