Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
musst nicht traurig sein«, sagte Rieke neben ihr. »Er kommt ja bald wieder.«
Lina nickte und schluckte schwer. Es war ja nicht nur, dass sie ihn jetzt schon vermisste. Die Last auf ihren Schultern schien sie plötzlich zentnerschwer niederzudrücken.
Es gab so viel zu tun. Sie würde Sophie bei den Tucketts abholen und dabei auch gleich den Esel mitbringen, den sie dort untergestellt hatten. Außerdem musste sie sich dringend um den Gemüsegarten kümmern. Und um die Hühner. Nach den Obstbäumen sehen. Das Haus putzen. Wäsche waschen. Weinstein und Blauholz kaufen, um damit ihre Kleider schwarz zu färben.
Aber zuerst musste sie dafür sorgen, dass Seip nicht ungestraft davonkam.
Lina nahm das Tuch von dem Spiegel in der Stube. Nach Rudolfs Tod war der Spiegel verhängt worden, wie es sich nach einem Trauerfall gehörte, aber jetzt war der Verstorbene begraben, und das normale Leben konnte wieder Einzug halten.
»Ihr habt gehört, was Alex gesagt hat«, wandte sich Lina an die Kinder. »Also holt eure Hefte und Bleistifte heraus.«
»Aber – es ist Samstag!«, begehrte Rieke auf und auch Julius wollte schon zu einem Protest anheben. Linas Blick ließ ihn verstummen
»Jeder von euch wird jetzt einen Aufsatz schreiben«, sagte sie. »Überschrift: ›Was ich in den letzten Tagen erlebt und was ich daraus gelernt habe.‹ Und dass ihr mir nicht voneinander abschreibt!«
Lina war nicht gern so streng, aber Strafe musste sein. Außerdem würde das die beiden eine Weile beschäftigen.
Sie sah zu, wie die Kinder mit Bleistift und einem zusammengefalteten Papier gerade Linien in ihren Heften zogen. Dann band sie ihre Schürze ab, zog ihre kurze Jacke an und legte sich den schwarzen Trauerschleier über ihre Haare, die sie jetzt wieder zu einem ordentlichen Knoten gedreht hatte. Ein prüfender Blick in den Spiegel zeigte ihr eine junge, traurig blickende Frau in einem einfachen schwarzen Sonntagskleid. In den vergangenen Tagen hatte sie etwas Farbe bekommen. Dennoch: Schwarz stand ihr nicht, es machte sie blass und ließ sie älter aussehen, als sie war. Sie sehnte sich schon jetzt nach dem Tag, an dem sie wieder Farbe tragen durfte. Oder zumindest Grau.
Rieke und Julius saßen mit tief gebeugten Köpfen über ihren Heften am Esstisch. Nur das Kratzen der Bleistifte auf Papier war zu hören. Lina musste lächeln. Wie eifrig die beiden doch waren.
»Ich muss kurz weg«, sagte sie. »Dass ihr mir keinen Unfug treibt. Wenn ich zurückkomme und mit euch zufrieden bin, dürft ihr mir nachher beim Kuchenbacken helfen.«
Sie würde jetzt zu den constables gehen, wie die Polizei hier genannt wurde, und Seip anzeigen. Immerhin hatte dieser Verbrecher sie mit einem Revolver bedroht. Und wenn sie nicht den Abhang hinuntergefallen wäre, hätte er ihr womöglich noch Schlimmeres angetan. Ihr wäre zwar lieber gewesen, die ganze Sache einfach zu vergessen, aber es ging hier nicht nur um sie, sondern um die Existenz der ganzen Familie Treban. Nur mit einer Anzeige konnte sie verhindern, dass Seip sie wegen der Schulden aus dem Haus warf.
Noch immer hinkte sie leicht mit ihrem verletzten Fuß. Sie griff nach dem Stock, auf den sie sich schon gestern gestützt hatte, und trat aus der Tür. Bevor sie sich auf den Weg machte, sah sie noch kurz bei den Hühnern vorbei, um die sich in den letzten Tagen ebenfalls die Tucketts gekümmert hatten.
Die beiden Hennen gaben ein lautes Gegacker von sich, als Lina den Hühnerstall betrat. Eine der beiden plusterte sich auf und beäugte Lina misstrauisch, erhob sich aber, als Lina unter sie griff und ein Ei im Stroh fand.
»Sehr schön«, murmelte sie, ließ das Ei aber dort liegen. Wenn sie zurückkam, konnte sie es immer noch fortnehmen. Damit würde sie den freundlichen Nachbarn zum Dank einen Kuchen backen. Aber das hatte Zeit.
Sie griff in die Futterkiste und verstreute eine Handvoll Körner auf dem Boden, dann öffnete sie die kleine Tür, die die Hühner ins Freie ließ, und ging wieder in den Hof.
Drei Personen kamen die Straße herauf. Als sie sich näherten, konnte Lina ihre dunklen Jacken erkennen: Es waren constables . Den Größten von ihnen, Mr Pendergast, hatte sie schon manchmal in Nelson gesehen.
Sie lächelte. Offenbar hatte Alexander noch Zeit gefunden, den constables Bescheid zu geben, damit Lina mit ihrem verletzten Fuß nicht erst durch den halben Ort laufen musste. Langsam ging sie ihnen einige Schritte entgegen.
»Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen,
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