Die Rueckkehr
an der Kante von Tallulahs Wall aufleuchten. Jetzt waren sie erglüht, in hellem Grün, aber das von Kletterpflanzen überwucherte Kliff von Tallulahs Wall lag in einem dunkellila Schatten. Man konnte noch immer den großen braunen Fleck am Steilhang sehen, wo vor sechs Monaten ein Typ absichtlich mit dem Flugzeug aufgeschlagen war. Noch ein Selbstmord, wie der von Raineys Dad.
Rainey warf einen Blick zu Axel hinüber, der zusammengesunken auf seinem Platz saß und traurig, besorgt und müde aussah. Ihnen waren schon vor einer ganzen Weile die Gesprächsthemen ausgegangen, das Gefühl, gemeinsam ein Abenteuer zu erleben, hatte sich langsam verflüchtigt, und jetzt waren sie beide einfach nur noch hungrig, ängstlich und müde.
Axel war ein tapferer kleiner Mann und Rainey mochte ihn gern – er hatte sich mit Coleman Mauldar angelegt –, aber jetzt wollte Axel wirklich wieder nach Hause, und sie würden sich bald entscheiden müssen, wie sie das anstellen sollten. Rainey betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe der Straßenbahn und wusste nicht genau, wie er seinen eigenen Zustand beschreiben sollte.
Er spürte große Distanz zu den Erwachsenen in seiner Umgebung, zu den hellen Lichtern der Läden und Häuser, die hinter der Scheibe an ihnen vorüberzogen, Distanz zum Leben im Ort selbst, als liefe dort ein langweiliger Film, den er absitzen musste, weil einer der Jesuiten glaubte, er würde sie zu besseren Menschen machen.
Vor allen spürte er Distanz zu Kate und Nick und den anderen Menschen in der aktuellen Fassung seines Lebens. Der Einzige, dem er sich verbunden fühlte, war Axel, obgleich Rainey sehr gut wusste, wie verschieden sie beide waren.
Axel waren zum Beispiel die Gedanken und Gefühle anderer Menschen wichtig. Rainey wusste, dass Axel gerade Schuldgefühle hatte, traurig war und sich mies fühlte. Vom Kopf her war Rainey klar, woher das kam: Sie waren bei einer Lüge und Täuschung nach der anderen erwischt worden, und wenn man bei solchen Heimlichkeiten ertappt wurde, fühlte man sich eben wütend, traurig und mies. Für das Schuleschwänzen würden sie büßen müssen. Das wusste Rainey genauso gut wie Axel.
Aber es war auch ein Mordsspaß gewesen.
Gerda, die alte Lesbe, hatte schriftliche Entschuldigungen und Erlaubnisse und den ganzen Kram verlangt. Axel hatte das mit dem Computer klargekriegt – Axel war irrsinnig schlau mit so was – man bekam richtig Angst –, und die Notizzettel hatten bei seiner Mutter mitten auf dem Schreibtisch gelegen.
Also hatten Rainey und er in der Unterrichtszeit machen können, was sie wollten. Damit war es jetzt vorbei. Sie hatten viel in ihrer Festung unten im Pattons Hard abgehangen, aber Axel hatte es dort gruselig gefunden.
Deshalb waren sie dann meistens in seinem eigentlichen Zuhause gewesen, fast täglich – außer wenn Lemon dort im Garten arbeitete. Sie hatten ferngesehen, waren auf Moms Computer im Internet unterwegs gewesen und hatten schmutzige Bildchen gegoogelt, Quatsch auf Facebook und Twitter gepostet und gegessen, was noch an Dosenfraß herumstand, ohne es warm zu machen.
Aber nachdem Axel dieses ganze Zeug über die Sachen gefunden hatte, die Rainey nach seiner Entführung passiert waren, hatten sie Google News in Ruhe gelassen.
Sie waren beide ziemlich erschrocken gewesen, vor allem Rainey. Rainey konnte sich nicht mehr genau an diese Zeit erinnern, er wusste nur noch, dass da in Moochies Schaufenster ein goldgerahmter Spiegel gehangen hatte, und wenn man hineinblickte, konnte man manchmal eine Farm in einem Kiefernwald sehen und ein großes Pferd, das Jupiter hieß.
Axel hatte auf Google einen Artikel gefunden, in dem stand, Raineys Mutter habe sich umgebracht, indem sie in den Crater Sink gesprungen sei. Aber ihre Leiche war nie gefunden worden und tief drinnen wusste Rainey, dass seine Mutter nicht tot war und er verstehen würde, was die Weiden ihm sagen wollten, wenn er ihren Stimmen nur genauer zuhörte. Wenn er genau genug lauschte, würden die Weiden ihm vielleicht auch helfen zu begreifen, warum sein Vater Selbstmord begangen hatte, nachdem er in diesem Grab gefunden worden war. Sogar Rainey fand, dass sein Vater sich nicht gerade dann hätte umbringen dürfen, als Rainey ihn am dringendsten brauchte. Deshalb war es für ihn besonders wichtig, zu erfahren, wie genau sich alles abgespielt hatte und warum, denn dann würde er wissen, was er mit all diesen Menschen in seinem Leben anfangen sollte.
Axel
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