Die Rückkehr der Königin - Roman
das.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Aber in seinen Augen stand große Sorge. »Aber du hast Recht. Du verfügst nicht über das, was in Sheriha’drin das Zweite Gesicht genannt wird. Wie aber ist es möglich, dass du die Anwesenheit des Gottes spürst, wenn eine an’sen’thar es nicht kann?«
»Kannst du ihr helfen?«, fragte Kieran. Plötzlich wurde ihm vor Erschöpfung so schwindlig, dass er sich an das nächste Kamel lehnte. Al’Tamar beobachtete ihn eindringlich.
»Er ist weg«, sagte al’Tamar unvermittelt. »Zurück in die Wüste, aus der er gerufen wurde. Nur al’Khurs Stärke hat dich aufrecht gehalten. Hast du gespürt, als er gegangen ist?«
Kieran drehte sich alles vor den Augen. Er konnte nur kraftlos und stumm nicken.
»Nein«, erklärte al’Tamar als Antwort auf die frühere Frage. »Ich kann ihr nicht helfen. Aber sie hat Recht – es gibt Menschen, die ihr vielleicht helfen können. Ihre alte Lehrerin, ai’Jihaar hat ein Zelt in einer hai’r südlich von hier. Dorthin sollten wir sie meiner Meinung nach bringen. Kannst du reiten?«
»Ja«, stieß Kieran zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ich habe auf meinem ki’thar noch zwei Burnusse«, sagte al’Tamar und holte ein Stück Stoff hervor, das in seinem Gürtel steckte. »Aber bis wir dorthin kommen, benutze das hier. Sie kann meins haben.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Kieran.
»Ich bin hier geboren«, antwortete al’Tamar. »Und es ist nicht weit.« Auf ein leises Wort von ihm kniete Angharas Kamel nieder. Dann wickelte er mit geschickten Fingern den Wüstenschleier um Kopf und Gesicht des Mädchens. Kieran starrte bewundernd auf die bronzenen Hände – so behutsam und so liebevoll. Bei diesem Anblick stieg ein tiefes und starkes Gefühl in ihm auf. Etwas, das ihm längst vertraut sein müsste, wenn er nur nicht so entsetzlich müde gewesen wäre ...
Als al’Tamar fertig war, trat er zurück – dann schaute er in Kierans Richtung und bemerkte den forschenden Blick. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Ohne die schützende Kopfbedeckung wirkte er ungemein jung und verletzlich. Das kupferfarbene Haar war über der hohen Stirn zurückgekämmt. Einen langen Moment lang trafen sich die beiden Augenpaare, die blauen und die goldenen, über Angharas verschleiertem Kopf. Dann senkte al’Tamar den Blick. »Bist du ... ihr qu’mar? «, fragte er.
Kieran wollte antworten, dass er nicht wisse, was das bedeutete, biss sich aber auf die Zunge. Selbstverständlich wusste er es. Selbst wenn er das Wort nicht kannte, der Ton, in dem die Frage gestellt worden war, ließ keinen Raum für Zweifel – al’Tamar wollte wissen, ob er Angharas Ehemann oder ihr Geliebter war. Kieran war selbst verblüfft, als er plötzlich den starken Wunsch in sich spürte, ja sagen zu können.
Wann hatte sich sein Beschützerinstinkt für die junge und verwundbare kleine Ziehschwester in die leidenschaftliche Liebe eines Mannes zu einer Frau verwandelt? Kieran vermochte es nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er innerhalb eines Sekundenbruchteils Anghara mit völlig anderen Augen sah und plötzlich glasklar verstand, weshalb er niemals hatte aufhören können, nach ihr zu suchen. Weshalb er so verzweifelt gewesen war, sie aus dem Kerker in Miranei zu befreien, dass er sogar das Leben seiner Männer, die ihm vertrauten, aufs Spiel gesetzt hatte. Weshalb er auf der letzten Reise so gelitten hatte, wenn er ihre Schmerzen sah. Und weshalb er – ohne das Zweite Gesicht zu haben – die Götter gespürt hatte, die sie gerufen hatte. Etwas band sie aneinander, tief in ihrer Vergangenheit – selbst Feor hatte es gewusst und Kieran ausgewählt, um Anghara zu suchen, als sie in den dunklen Jahren von Sifs Säuberung verschwunden war – aber erst jetzt war diese Liebe aufgeblüht, und Kieran war wie vom Donner gerührt von der Macht und der Schönheit der Blüte.
Aber er wusste, dass er das alles vielleicht zu spät erkannt hatte.
»Nein«, beantwortete er al’Tamars Frage. Seine Stimme war leise, aber so wund von vielen ungesagten Dingen, dass al’Tamar zusammenzuckte. Nach einem Herzschlag Schweigen schnalzte dieser mit der Zunge, und Angharas Kamel stand mit einem quietschenden Laut der Beschwerde auf.
»Du reitest das andere«, sagte er zu Kieran mit ruhiger Stimme, die nichts von dem verriet, was soeben offenbar geworden war.
»Und du?«
»Ich führe euch zu meinem ki’thar. Wir können uns in meinem Lager ausruhen.
Weitere Kostenlose Bücher