Die Rückkehr der Königin - Roman
...
Er sah, wie Anghara zusammenzuckte und hörte, wie sie etwas schrie. Dabei streckte sie die Hand zum Altar. Dann taumelte sie und wäre fast gestürzt. Ai’Jihaar hatte Mühe, sie aufrecht zu halten. Das Dröhnen der Trommeln ließ nicht nach, und ai’Daileh ging zu Anghara, hob deren Kopf und starrte ihr durchdringend in die Augen – was sie sah, schien ihr nicht zu gefallen. Sie schlang die Arme um ai’Jihaar, wobei sie Anghara einschloss. Kieran hatte furchtbare Kopfschmerzen; die Trommeln schlugen in einer beißenden Wolke aus den unterschiedlichen Gerüchen von khaf , lais und exotischen Räucherwaren, die man inzwischen angezündet hatte. Die Mischung daraus fand einen dunklen und stillen Platz direkt hinter seinen Schläfen und zischte wie ein Vipernnest. Seine Augen begannen zu tränen; er schloss sie kurz und holte tief Luft. Dabei lehnte er sich gegen den rauen Stamm.
Als er die Augen wieder aufschlug, sah er, dass Anghara inzwischen zwei grauen Schwestern übergeben worden war, die sie stützten. Die beiden goldenen Priesterinnen, die alte und die junge, waren an den Altar getreten. Die Vögel hockten eigenartig still da, als verstünden sie ihr Schicksal und protestierten nicht dagegen. Sie wehrten sich nicht, als jede an’sen’thar einen herausholte und in der Hand behielt.
Kieran verstand die Worte nicht, die gesprochen wurden. Das musste er auch nicht. Ringsum ihn wurde die Luft ganz still und fest, ähnlich wie er es in der Wüste in Shaymir erlebt hatte. Hier war Macht – aber diese war dunkel, und nichts von ihr gehörte Anghara, die dastand und unmerklich im Rhythmus der Trommeln schwankte, völlig entrückt ... allerdings hatte sie die helfenden Hände der grauen Schwestern abgeschüttelt und stand ohne Hilfe neben dem Altarstein.
Wirkte der Zauber schon? Kam langsam ihre Kraft zurück?
Auf dem Altar wurden die beiden Vögel mit den gebrochenen Flügeln Brust an Brust gelegt. Zuerst sprach ai’Daileh etwas über ihnen, mit tiefer, rauchiger Stimme, dann antwortete ai’Jihaar langsam und leise; beide hielten mit einer Hand den jeweiligen Vogel, mit der anderen hoben sie den Dolch. Dann sausten beide Klingen gleichzeitig herab und durchbohrten beide Vögel. Blut, das im Feuerschein dunkel und bösartig aussah, quoll durch das weißgoldene Gefieder. Die Dolche hefteten die Vögel aneinander. Die Griffe bildeten mit ihnen ein Kreuz.
Die Feuer stoben Funken. Ein Lächeln stahl sich auf Angharas Gesicht, aber ihre Augen waren immer noch leer, glasig, und ihr Lächeln war unschön. Die Luft verdichtete sich unerträglich; Kieran glaubte, sehen zu können, wie sie sich vor seinen Augen zu langen weißen Streifen verband, wie Nebel oder Fetzen von Geistern. Er keuchte; etwas Schweres legte sich auf seine Schultern, drückte ihn nieder, sodass ihm die Knie weich wurden. Er widersetzte sich, ballte die Fäuste und hob trotzig den Kopf, um zu dem mit Sternen besetzten Himmel emporzuschauen. Ihr seid nicht meine Götter! Ich beuge meine Knie nicht vor euch!
Doch andere taten das. Eine der Grauen kniete; eine zweite ging gerade auf ein Knie, als Kierans Blick sie streifte. Und dann – sehr langsam – schien auch ai’Jihaar in sich zu zerbröckeln, als hinge ihr Gewand plötzlich in der leeren Luft. Lautlos sank sie in sich zusammen wie ein Gespenst. Kieran hörte, wie jemand vor Schmerz aufschrie. Dann dämmerte ihm, dass er selbst das gewesen war. Anghara reagierte überhaupt nicht.
Doch ai’Daileh. Sie kniete neben der alten an’sen’thar nieder und legte eine schlanke Hand mit langen Fingern auf ai’Jihaars geschlossene Lider. Dann erhob sie sich. Ein Schritt zu Anghara, die sich umdrehte und lachte; und dann – ganz langsam, im Rhythmus der Trommeln – und durch die dicke Luft, ertönte ai’Dailehs Stimme.
Wieder konnte Kieran die Worte nicht verstehen, aber in der Dunkelheit ihrer Stimme wusste er, dass tief in ihm der Tod schlief, und er spürte die Eiseskälte bis in die Knochen. Er vermochte in ai’Dailehs Augen zu lesen, hinweg über die Entfernung, die sie trennte, als sie ihn anblickte. Sie hatte das Opfer den Göttern Kheldrins dargebracht, aber sie hatte den Tod selbst in diesen Kreis gerufen – nicht al’Khur, den Herrn des Todes.
Kierans Tod.
10
»Sie will dich töten!«
Die Worte waren wie ein Echo von Kierans eigenen Gedanken, und einen Moment lang glaubte er, er habe es laut ausgesprochen. Doch dann erkannte er den wahren Ursprung dieser sanften, aber
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